Die Lilie im Tal (German Edition)
Rücken. Aus ihren Augen drangen zwei Strahlen, die Lebenswärme über dies elende kleine Geschöpf ergossen.
»Sie sind von einem unverantwortlichen Leichtsinn!« sagte der Comte bitter. »Sie setzen ihn der Kälte am Bach aus und erlauben ihm, auf einer Steinbank zu sitzen.« – »Aber Vater, die Bank ist ja brennend heiß!« rief Madeleine. »Da oben ersticken sie vor Hitze«, sagte die Comtesse. »Die Frauen wollen doch immer recht haben«, sagte er zu mir gewandt.
Um nicht zu erwidern und ihm nicht durch einen zustimmenden oder mißbilligenden Blick antworten zu müssen, beobachtete ich Jacques, der über Halsschmerzen klagte und den seine Mutter wegführte. Beim Weggehen konnte sie die Worte ihres Mannes hören: »Wenn man so kränkliche Kinder zur Welt gebracht hat, sollte man es wenigstens verstehen, sie zu pflegen!«
Abscheulich ungerechte Worte! Aber seine Selbstliebe trieb ihn dazu, sich auf Kosten seiner Frau zu rechtfertigen. Die Comtesse flog die Treppen und die Terrassen hinauf. Ich sah sie durch die Glastür verschwinden. Monsieur de Mortsauf hatte sich auf die Bank gesetzt, nachdenklich und gesenkten Hauptes. Meine Lage wurde unerträglich. Er sah mich weder an, noch sprach er. Es war aus mit dem Spaziergang, den ich hatte benutzen wollen, um mich endgültig in seiner Sympathie einzunisten ... Ich erinnere mich nicht, in meinem Leben eine abscheulichere Viertelstunde verbracht zu haben. Der Schweiß stand mir in hellen Tropfen auf der Stirn, ich fragte mich: ›Soll ich gehen, soll ich nicht gehen?‹ Wieviel traurige Gedanken müssen in ihm aufgestiegen sein, daß er vergaß, nach dem Befinden seines Sohnes zu sehen! Er stand unvermittelt auf und kam zu mir. Wir drehten uns um und betrachteten das fröhliche Tal.
»Wir wollen unsern Spaziergang auf einen andern Tag verlegen, Monsieur le Comte«, schlug ich dann freundlich vor. »Nein, gehen wir!« antwortete er. »Ich bin leider an derartige Krisen gewöhnt, ich, der ich ohne Bedenken mein Leben hingäbe, um dieses Kind zu erhalten.«
»Jacques geht es besser, mein Freund, er schläft«, sagte die Goldstimme. Madame de Mortsauf tauchte plötzlich am Ende der Allee auf. Sie kam ohne Bitterkeit, ohne Groll und antwortete auf meinen Gruß: »Ich sehe mit Freuden, daß sie Clochegourde liebhaben.«
»Liebe, wünschen Sie, daß ich ein Pferd nehme und Monsieur Deslandes hole?« fragte der Comte, um Verzeihung für seine Ungerechtigkeit von vorhin zu erlangen. »Machen Sie sich keine Sorge!« sagte sie. »Jacques hat die letzte Nacht nicht geschlafen, das ist alles. Das Kind ist furchtbar nervös, es hat einen bösen Traum gehabt, und ich habe lange Zeit gebraucht, um es durch Geschichtenerzählen wieder zum Schlafen zu bringen. Es hat einen rein nervösen Husten. Ich habe ihm ein Hustenbonbon gegeben, und es ist gleich eingeschlafen.« – »Arme Frau!« sagte er, ihre Hände ergreifend. Er blickte sie mit Tränen in den Augen an. »Ich wußte nichts davon.« – »Wozu sich über Kleinigkeiten aufregen? Gehen Sie zu Ihrem Roggen! Sie wissen, daß in Ihrer Abwesenheit die Pächter fremde Ährenleserinnen auf das Feld lassen, ehe noch die Garben entfernt sind.« – »Ich werde meine erste landwirtschaftliche Vorlesung hören«, sagte ich. »Sie sind in eine gute Schule geraten!« antwortete sie und wies dabei auf den Comte. Dieser verzog seinen Mund zu einem zufriedenen Lächeln: er machte ein Kußmäulchen, wie man so sagt.
Zwei Monate später erst erfuhr ich, daß sie diese Nacht in schrecklichen Ängsten verbracht hatte; sie fürchtete, daß ihr Sohn den Keuchhusten bekäme. Und ich, ich saß im Boot, von Liebesgedanken sanft gewiegt; ich bildete mir ein, daß sie mich von ihrem Fenster aus sähe, wie ich den Schein der Kerze anbetete, die gerade ihre von Todesangst durchfurchte Stirn beleuchtete. Damals herrschte in Tours Keuchhusten und richtete furchtbares Unheil an.
Als wir an der Tür waren, sagte mir der Comte mit gerührter Stimme: »Madame de Mortsauf ist ein Engel.« Dieses Wort machte mich schwankend. Ich kannte die Familie erst oberflächlich, und das so natürliche Bedenken, das eine junge Seele bei ähnlichen Anlässen befällt, rief mir zu: ›Mit welchem Recht trübst du diesen tiefen Frieden?‹
Der Comte war erfreut, einen jungen Mann zum Zuhörer zu haben, dem er leicht imponieren könnte. Er sprach von der Zukunft Frankreichs, wie sie die Rückkehr der Bourbonen gestalten würde. Wir führten eine zerfahrene Unterhaltung,
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