Die Lilie im Tal (German Edition)
unerklärlich beklommene Stimmung. Der Comte saß in einen Sessel vergraben, versunken in tiefes Nachdenken, das seine Frau nicht stören wollte; denn sie verstand sich auf die Symptome der Krankheit und sah die Anfälle voraus. Ich tat wie sie und schwieg. Da sie mich nicht bat, fortzugehen, glaubte sie vielleicht, das Tricktrackspiel würde den Comte erheitern und seine unselige nervöse Reizbarkeit vertreiben; deren Ausbrüche sie zu Tode quälten. – Nichts war schwieriger, als den Comte zu diesem Spiel zu bewegen, das er doch immer mit Vorliebe spielte. Einem eitlen Dämchen gleich wollte er gebeten sein, wollte sich nötigen lassen, damit es nicht aussehe, als tue man ihm einen Gefallen, vielleicht gerade, weil es sich so verhielt. Wenn ich im Eifer einer anregenden Unterhaltung einen Augenblick meine demütige Pose vergaß, so wurde er mürrisch, schroff, beleidigend, ärgerte sich über die Unterhaltung und widersprach allem, was man sagte. Wenn ich durch seine schlechte Laune so gewarnt war, schlug ich ihm ein Spielchen vor. Er zierte sich – erstens sei es zu spät, meinte er, und zweitens liege mir ja doch nichts daran. Kurzum, er zierte und wand sich wie eine Frau, bei der man schließlich nicht mehr weiß, was sie will. Ich demütigte mich und flehte ihn an, mich nicht eine Kunst vergessen zu lassen, in der man so leicht aus der Übung kommt, – Diesmal bedurfte es einer ausgelassenen Heiterkeit, um ihn zum Spielen zu bringen. Er beklagte sich über Schwindelanfälle, die ihn am Rechnen hinderten, sein Schädel sei wie in einen Schraubstock gespannt, er höre schrille Töne ... Dabei atmete er schwer und stieß tiefe Seufzer aus. Endlich gab er nach und setzte sich zurecht. Madame de Mortsauf verließ uns, um die Kinder zu Bett zu bringen und die Dienstboten ans Abendgebet zu erinnern. Solange sie fort war, ging alles gut. Ich richtete mich so ein, daß Monsieur de Mortsauf gewann; und bald hatte sein Glück ihm die Stirn geglättet. Der plötzliche Übergang von einer Schwermut, die ihn die düstersten Prophezeiungen ausstoßen ließ, zu dieser trunkenen Freude, zu diesem ausgelassenen und fast sinnlosen Gelächter beunruhigte mich. Es überlief mich eisig. Ich hatte ihn nie in einem so unzweideutigen Anfall gesehen. Unsere engen Beziehungen hätten ihre Frucht getragen, er nahm sich vor mir nicht mehr zusammen. Jeden Tag versuchte er mehr, mich seiner Tyrannei zu unterwerfen und mich immer von neuem zum Opfer seiner Launen zu machen. Es scheint eben, als seien geistige Krankheiten Geschöpfe, die ihre Begierden und ihre Instinkte haben, die ihre Macht ausdehnen wollen, wie ein Gutsbesitzer darauf aus ist, sein Land zu vergrößern. – Die Comtesse kam herunter, setzte sich an den Spieltisch, um beim Sticken besser zu sehen. Aber sie konnte ihre Furcht nur schlecht verhehlen. Ein verhängnisvoller Zug, den ich nicht hindern konnte, änderte den Gesichtsausdruck des Comte. War er heiter gewesen, so wurde er jetzt finster; vorhin noch hochrot, wurde er jetzt gelb; seine Augen flackerten. Und dann geschah ein letztes Unglück, das ich weder ahnen noch abwenden konnte. Monsieur de Mortsauf tat einen für ihn verhängnisvollen Wurf, der sein Geschick entschied. Alsbald sprang er auf, stieß mit dem Spieltisch nach mir, warf die Lampe auf die Erde, schlug mit der Faust auf die Konsole und raste durch den Salon – ›gehen‹ wäre kein Wort dafür. Der Sturzbach von Beleidigungen, Verwünschungen, unflätigen Anreden, unzusammenhängenden Sätzen, der aus seinem Munde drang, hätte die Vorstellung erwecken können, als sei ich nach mittelalterlichem Brauch etwa sein Leibeigener. Was sollte ich tun?
»Gehen Sie in den Garten!« sagte sie und drückte mir die Hand.
Ich verließ das Zimmer, ohne daß der Comte mich bemerkte. Von der Terrasse aus, wohin ich langsamen Schrittes gegangen war, hörte ich seine laute Stimme und sein Ächzen, das aus der Stube neben dem Eßzimmer drang. Durch den Sturm hindurch vernahm ich auch die Stimme des Engels, die von Zeit zu Zeit ertönte wie Nachtigallengesang nach Regenschauern. Ich ging unter den Akazien auf und ab, in einer wundervollen Spätaugustnacht, und wartete auf die Comtesse. Sie würde kommen, irgendeine ihrer Bewegungen hatte es mir versprochen.
Seit einigen Tagen lag eine Aussprache zwischen uns in der Luft. Sie wurde unvermeidlich beim ersten Wort, das den übervollen Born unserer Herzen erschließen mußte. Welche Scheu verzögerte die Stunde unserer
Weitere Kostenlose Bücher