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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Gehorsam und Sanftmut das Herz ihrer Mutter bezwungen zu haben, und sich ihr anvertraute, erschien wieder der Tyrann in der Mutter und bediente sich ihres Vertrauens als einer Waffe. Ein Spion wäre nicht so feig, nicht so verräterisch gewesen. Alle ihre Mädchenfreuden, alle Feste wurden ihr vergällt, denn man warf ihr vor, fröhlich zu sein, als ob sie es eines geheimen Vergehens wegen wäre. Nie wurden ihr die Lehren ihrer vornehmen Erziehung mit Liebe gegeben, sondern stets mit beißender Ironie. Sie war ihrer Mutter deshalb nicht gram; aber sie warf sich vor, für sie weniger Liebe als Furcht zu empfinden. ›Vielleicht‹, dachte dieser Engel, ›ist solche Strenge notwendig.‹ War das nicht eine gute Vorschule zu ihrem jetzigen Leben gewesen? ... Wie ich ihr so zuhörte, schien es mir, als würde die Harfe Hiobs, der ich nur wilde Akkorde entlockt, von einer christlichen Hand berührt und sänge die Litaneien der Heiligen Jungfrau am Fuße des Kreuzes.
    »Wir lebten in derselben Sphäre, ehe wir uns hier wiederfanden, Sie kamen von Sonnenaufgang, ich vom Niedergang.« Sie schüttelte verzweifelt den Kopf »Ihnen gehört der Aufgang, mir der Niedergang«, sagte sie. »Sie werden glücklich leben, ich werde vor Schmerzen sterben. Männer schaffen sich selbst die Ereignisse ihres Lebens. Das meine ist auf alle Zeiten festgelegt, keine Macht kann die schwere Kette brechen, an die die Frau durch einen Goldreif geschmiedet ist, das Sinnbild der Gattinnenreinheit.«
    Da wir uns als Zwillinge fühlten, wollte sie nicht, daß zwischen Geschwistern, die aus denselben Lebensquellen geschöpft haben, nur halbes Vertrauen herrsche. Sie seufzte, wie ein reines Herz seufzt, bevor es sich einem andern erschließt, und dann erzählte sie mir von den ersten Tagen ihrer Ehe, von ihren ersten Enttäuschungen, von der Wiederkehr ihres Unglücks. Sie hatte wie ich die kleinen Zwischenfälle des Lebens gekannt, die so groß sind für Seelen, deren spiegelklare Wasser bei der geringsten Erschütterung bis auf den Grund getrübt werden: Zwischenfälle, die wirken wie der Stein, den man in einen See wirft und der gleichzeitig seine Oberfläche und seine Tiefen verwirrt. Als sie sich verheiratete, besaß sie kleine Ersparnisse, das bißchen Gold, das fröhliche Stunden bedeutet und die tausend Wünsche der Jugend. Am Tage der Not hatte sie es großmütig hingegeben, ohne zu sagen, daß es Erinnerungen und nicht Goldstücke waren. Ihr Mann sah darin nichts Besonderes: er fühlte sich nie als ihr Schuldner. Als Entgelt für diesen Schatz, der von den schlafenden Wassern des Vergessens verschlungen wurde, ward ihr nicht einmal der feuchte Blick geschenkt, mit dem alles belohnt ist und der für hochherzige Menschen wie ein Edelstein ist, dessen Feuer in dunkeln Tagen leuchtet. Sie wanderte von Schmerz zu Schmerz. Monsieur de Mortsauf vergaß, ihr das nötige Haushaltsgeld zu geben, er schien aus einem Traum zu erwachen, wenn sie schließlich ihre Scheu überwand und ihn darum bat. Und nie hatte er ihr eine einzige dieser grausamen Demütigungen erspart! Wie erschrak sie, als ihr die krankhafte Natur dieses verbrauchten Mannes offenbar wurde. Der erste Ausbruch seiner wahnsinnigen Wut hatte sie zerschmettert. Wie viele herbe Überlegung hatte es sie gekostet, um dahin zu gelangen, ihren Mann als eine Null zu betrachten, die gebieterische Erscheinung zu übersehen, die das Leben einer Frau beherrscht. Welch namenloses Elend hatten ihre beiden Entbindungen nach sich gezogen! Welche Zerknirschung beim Anblick der beiden sozusagen totgeborenen Kinder! Welch ein Mut gehörte dazu, sich zu sagen: ›Ich werde ihnen Leben einhauchen, ich werde sie jeden Tag von neuem gebären!‹ Und dann, welche Verzweiflung, als sie einen Widerstand fühlte in dem Herzen und in der Hand, woraus die Frau ihre Kraft zieht! Sie hatte nach jeder überwundenen Schwierigkeit das gewaltige Unglück seine dornigen Wüsten vor ihr ausbreiten sehen. Sie erklomm einen Felsen und sah nur neue Einöden, vor sich liegen, die durchpilgert werden mußten, bis sie ihren Mann, den Organismus ihrer Kinder und das Land, worin sie leben sollte, gründlich kennen würde; bis sie wie die Kinder, die Napoleon der Pflege ihrer Mutter und ihrem Herd entriß, ihre Füße gelehrt hätte, durch Schmutz und Schnee zu schreiten; bis ihre Stirn an das Sausen der Kugeln und ihr ganzes Wesen an den blinden Gehorsam des Soldaten gewöhnt wäre. All diese Dinge, die ich hier kurz zusammenfasse,

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