Die Lilie im Tal (German Edition)
Frau, die zu hoch steht, als daß eine Beleidigung an sie heranreichen könnte, und mit zitternder Stimme sagte sie: »Ich weiß, wovon Sie sprechen wollen. Es ist der erste, der letzte – der einzige Schimpf, den man mir angetan hat. Sprechen Sie nie von diesem Ball! Die Christin hat Ihnen verziehen, die Frau leidet noch darunter.«
– »Seien Sie nicht unbarmherziger als Gott selbst«, sagte ich, die Tränen zurückhaltend, die mir an den Wimpern hingen. »Ich muß strenger sein, denn ich bin schwächer«, antwortete sie. »Aber«, entgegnete ich in einer Aufwallung kindlichen Trotzes, »hören Sie mich an, und wäre es das erste, das letzte und einzige Mal in Ihrem Leben!« – »Gut denn«, sagte sie, »so sprechen Sie, sonst könnten Sie glauben, daß ich mich fürchte, Sie anzuhören.«
Da ich fühlte, daß dieser Augenblick nie wiederkehren würde, sagte ich ihr in einem Ton, der Aufmerksamkeit erzwang, daß mich alle Frauen auf dem Ball und alle, die ich vorher je gesehen, durchaus kalt gelassen hätten; aber als ich sie erblickt, da sei ich, der Lerneifrige, der Schüchterne, von einem Strudel fortgerissen worden, den nur die verdammen könnten, die ihn nie gekannt hätten; daß nie das Herz eines Mannes so erfüllt gewesen sei von der Lust, der nichts widersteht, die alles überwindet, selbst den Tod ...
»Und die Verachtung?« unterbrach sie mich. »Haben Sie mich denn verachtet?« fragte ich. »Sprechen wir nicht mehr davon!« sagte sie. »Im Gegenteil! Sprechen wir davon!« antwortete ich in meiner Erregung, die übermenschlichem Schmerz entsprang. »Es handelt sich um mein ganzes Sein, um mein innerstes Leben, um ein Geheimnis, das Sie wissen müssen, wenn ich nicht vor Verzweiflung sterben soll. Und handelt es sich nicht auch um Sie, die, ohne es zu wissen, die Frau sein sollte, in deren Händen die dem Sieger im Turnier versprochene Krone leuchtet?«
Ich erzählte ihr meine Kindheit, meine Jugend, nicht wie ich sie Ihnen, aus der Entfernung urteilend, erzählt habe, sondern mit den glühenden Worten des Jünglings, dessen Wunden noch bluteten. Meine Stimme dröhnte wie die Axt des Holzhauers im Walde. Vor ihr fielen krachend die toten Jahre zusammen, die langen Leiden, die an ihnen wie blattlose Äste starrten. Ich malte ihr mit fiebernder Stimme tausend schreckliche Einzelheiten, die ich Ihnen erspart habe. Ich breitete vor ihr den Schatz meiner schillernden Wünsche aus, das lautere Gold meiner Begierden, ein Herz, das glühend blieb unter den Eisbergen, die ein ewiger Winter aufgetürmt hatte. Als ich gebeugt unter der Last meiner Leiden, die ich mit des Jesaias Flammenworten geschildert hatte, auf ein Wort von der Frau wartete, die mir mit gesenktem Haupte zuhörte, da strahlte plötzlich ihr Blick in meine Finsternis hinein, da beseelte sie mir Himmel und Erde mit einem einzigen Wort: »Wir haben die gleiche Kindheit verlebt«, und um ihr Haupt leuchtete die Strahlenkrone der Märtyrer.
Unsere Seelen vermählten sich in den tröstlichen Gedanken: >So war ich denn nicht der einzige, der litt!« Nach einer Pause sagte mir die Comtesse mit der Stimme, die sonst nur ihren Kindern gehörte, daß sie das Unglück gehabt hätte, als Mädchen zur Welt zu kommen, nachdem die Söhne gestorben waren; sie erklärte mir den Unterschied zwischen den Leiden eines Mädchens, das an den Röcken seiner Mutter hängt, und denen des Knaben, der in das Internatleben hineingestoßen wird. Meine Einsamkeit erschien mir wie ein Paradies, verglichen mit den Mühlsteinen, zwischen denen ihre Seele zerrieben wurde, bis zu dem Tage, wo ihre wirkliche Mutter, ihre gütige Tante, sie gerettet und den Martern entrissen hatte, deren nie versiegende Qualen sie mir schilderte. Es waren die tausend unnennbaren kleinen Reibereien, unerträglich für zartbesaitete Naturen, die vor einem Dolchstich nicht zurückschrecken, aber unter dem Schwert des Damokles zugrunde gehen: bald waren es Aufwallungen kindlichen Edelmuts, die ein eisiger Befehl zurückdämmte, bald ein Kuß, der nur lau erwidert wurde, bald ein Schweigen, das erst befohlen, dann getadelt wurde, hinuntergewürgte Tränen, die ihr auf dem Herzen lasteten, endlich die Nörgeleien des Klosters, die sich für Außenstehende hinter dem Schein glorreichster mütterlicher Liebe verbergen. Ihre Mutter prahlte mit ihr und rühmte sie, aber am nächsten Tage mußte sie diese Schmeicheleien, die ihre gute Erziehung rühmen sollten, teuer bezahlen. Wenn sie glaubte, durch
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