Die linke Hand Gottes
wie undankbar es von ihr gewesen war, solche Zweifel über ihn zu hegen. Und jetzt hatte er ihren Bruder wie durch ein Wunder verwandelt. Daran sah man, wie großzügig er zu anderen war und wie klug und einfühlsam. Während sie ihn mit jedem Millimeter ihres kostbaren, geschmeidigen Leibes liebte, brannte sie vor Bewunderung für ihn. Welches Wunder diese hingebungsvolle Liebe in Thomas Cales geschundener Seele vollbrachte, mit welch freudigem Staunen er alles aufnahm. Als er später, von ihren eleganten Armen und Beinen umfangen, mit ihr ruhte, schien es ihm, als ob die Sonne nun auch die tiefste Schicht seiner vereisten Seele erreicht hätte.
»Dir wird nichts Schlimmes zustoßen, versprich mir das«, sagte sie nach fast einer Stunde Schweigen.
»Dein Vater und seine Generäle haben nicht die Absicht, mich an die vorderste Front zu lassen. Und ich will mich auch gar nicht ins Kampfgetümmel werfen. Das geht mich nichts an. Meine Aufgabe besteht darin, dich zu schützen. Alles andere interessiert mich nicht.«
»Und wenn mir etwas zustößt?«
»Dir wird nichts zustoßen.«
»Selbst du weißt das nicht gewiss.«
»Was hast du denn auf einmal?«
»Nichts.« Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und schaute ihm tief in die Augen, so als suche sie etwas. »Du kennst doch das Bild, das nebenan an der Wand hängt.«
»Dein Urgroßvater?«
»Ja, mit seiner zweiten Frau Stella. Ich habe es wegen eines Briefes dort aufgehängt, den ich einmal, ich war noch ein Mädchen, beim Stöbern in alten Familiensachen in einer Truhe entdeckt habe. Ich glaube, seit hundert Jahren hatte niemand mehr hineingeschaut.« Sie stand auf und ging nackt wie Eva im Paradies – ein atemberaubender Anblick für jeden Mann – zu einer Kommode am anderen Ende des Zimmers. Wie kommt es, dachte Cale, dass mich solch ein Geschöpf liebt? Sie kramte in einer Schublade und kam dann mit einem Kuvert zurück. Sie entnahm ihm zwei eng beschriebene Blätter und schaute traurig auf die Zeilen. »Das ist der letzte Brief, den er Stella schrieb, ehe er bei der Belagerung von Jerusalem fiel. Ich möchte dir gern den letzten Absatz vorlesen, denn darin steht etwas, was mir wichtig ist.« Sie setzte sich am Fuß des Bettes hin und las ihm vor.
Meine über alles geliebte Stella, vieles deutet darauf hin, dass wir in den kommenden Tagen erneut angreifen werden -vielleicht schon morgen. Da ich dir womöglich dann nicht mehr Schreiben kann, will ich dir diese Zeilen hinterlassen, die du Vielleicht erst lesen wirst, wenn ich schon nicht mehr bin.
Stella, meine Liebe zu dir geht über den Tod hinaus, sie bindet mich so fest an dich, dass nur Gott uns trennen könnte. Falls ich nicht heimkehren sollte, vergiss nie, meine liebe Stella, wie sehr ich dich liebe. Wenn ich auf dem Schlachtfeld meinen letzten Atem aushauche, dann werde ich deinen Namen flüstern.
Wenn aber, Stella, die Toten auf die Erde zurückkehren und unsichtbar ihre Lieben begleiten, dann werde ich dir immer nahe sein, ob am hellen Tag oder in der dunklen Nacht, in unbeschwerten Augenblicken und in schweren Stunden, immer werde ich bei dir sein. Und wenn eine leise Brise an deine Wange dringt, dann wird das mein Atem sein, und wenn ein kühler Hauch deine pochende Schläfe umfächelt, dann wird das mein Geist sein, der dich umschmeichelt.
Mit Tränen in den Augen blickte Arbell auf. »Das war die letzte Nachricht, die sie von ihm erhalten hat.« Sie krabbelte vom Fuß des Bettes hinauf zu Cale und drückte ihn fest an sich. »Auch ich bin eins mit dir. Denk immer daran, dass, ganz gleich, was geschieht, ich dir nahe bin, mein Geist wird über dich wachen.«
Bezaubert und hingerissen von dieser schönen, leidenschaftlichen Geliebten wusste Cale nicht, was er erwidern sollte. Doch schon bald waren Worte nicht mehr nötig.
VIERUNDDREISSIGSTES KAPITEL
W ilfred »Schmerbauch« Penn, Wachsoldat in der rund hundert Meilen nördlich von Memphis gelegenen Stadt York, sperrte die Augen weit auf, um bei seinem Rundblick über die Stadtmauern nicht einzuschlafen. Über dem Wald, der die Stadt von allen Seiten umgab, ging die Sonne auf, und er sagte sich, dass die Nachtwache zwar stumpfsinnig und öde gewesen war, aber bei diesem Anblick, ganz gleich wie oft man den Tagesanbruch schon erlebt habe, freue man sich immer wieder des Lebens. Im gleichen Augenblick sah er etwas so Seltsames, dass die Empfindung, Zeuge von etwas schier Unmöglichem zu sein, stärker war als Angst und Schrecken. Was er
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