Die linke Hand Gottes
Luft. Am Ende konnte es der Marschall nicht länger mit ansehen und wollte schon seinen Leibdiener Pepys beauftragen, dem Übeltäter mitzuteilen, entweder aufzuhören oder den Saal zu verlassen, als der junge Mann neben Simon aufstand und zum Zeichen des Ruhegebens stehen blieb. Das war in dieser Gesellschaft so ungewöhnlich, dass das Lachen und die Gespräche bei Tisch fast ganz verstummten.
»Mein Name ist Jonathan Koolhaus«, stellte sich Koolhaus vor. »Ich bin Lord Simon Materazzis Sprachlehrer. Lord Simon möchte Ihnen etwas mitteilen.« Bei dieser Ankündigung trat im ganzen Saal mehr aus Erstaunen als aus Ehrerbietung völlige Stille ein. Daraufhin stand Simon auf und vollführte mit der rechten Hand ebenfalls Figuren, wie das Koolhaus schon den ganzen Abend über getan hatte.
Koolhaus übersetzte: »Lord Materazzi sagt: >Mir hat den ganzen Abend Probst David Lascelles gegenübergesessen. Dabei hat er von mir dreimal als einem sabbernden Kretin gesprochen.‹« Simon grinste gut gelaunt über beide Ohren. »›Nun, Probst Lascelles, wie die Kinder auf dem Anger sagen: Wer so etwas sagt, ist selber einer.‹«
Hierauf brachen die Anwesenden in schallendes Gelächter aus, wobei sie außer über den Witz selbst auch über Lascelles’ hervortretende Augen und sein rotes Gesicht lachten. Simons rechte Hand fuhr rasch hin und her.
»Lord Simon Materazzi sagt«, übersetzte Koolhaus, »>der Probst behauptet, es sei schmählich für ihn, mich als Gegenüber zu haben. <« Simon verbeugte sich zum Scherz vor David Lascelles, und Koolhaus tat es ihm gleich. Simons Hand bewegte sich erneut. »›Ich darf Euch sagen, Probst, dass ich diese Schmach teile.‹«
Gutmütig lächelnd setzte sich Simon und Koolhaus ebenfalls.
Eine Weile starrten alle am Tisch in ungläubigem Erstaunen, nur hier und da lachte jemand oder applaudierte. Dann, wie auf geheime Verabredung, taten alle, als wäre nichts geschehen. Alle redeten und lachten wieder wie zuvor, zumindest oberflächlich betrachtet.
Die Abendgesellschaft endete wie vorgesehen, die Gäste wurden nach draußen geleitet und der Marschall, begleitet von Vipond, eilte in seine privaten Gemächer, wohin er seinen Sohn und seine Tochter zu einer Unterredung bestellt hatte. Kaum hatte er die Schwelle überschritten, da fragte er auch schon: »Was geht hier vor? Was für ein grausamer Trick ist das?« Dabei schaute er seine Tochter an.
»Ich weiß von nichts. Mir ist das genauso rätselhaft wie Euch.«
Währenddessen flogen Koolhaus’ Finger hin und her, um Simon alles so rasch und diskret wie möglich zu übersetzen.
»Ihr da, was macht Ihr da eigentlich?«
»Ich, äh, ich praktiziere Gebärdensprache.«
»Was meint Ihr damit?«
»Das ist ganz einfach. Jede Gebärde meiner Hand bedeutet ein Wort oder eine Handlung.« Koolhaus sprach vor Aufregung so schnell, dass er kaum zu verstehen war.
»Langsamer!«, herrschte ihn der Marschall an. Zitternd wiederholte Koolhaus, was er gesagt hatte. Der Marschall sah ihn ungläubig an, und sein Sohn wandte sich an Koolhaus.
»Lord Simon sagt... äh... Ihr mögt doch bitte nicht mit mir schimpfen.«
»Dann erklärt, worum es sich dabei handelt.«
»Das Prinzip ist einfach, Euer Gnaden. Wie ich schon sagte, steht jede Gebärde für ein Wort oder eine Gefühlsregung.« Koolhaus legte den Daumen auf die Brust.
»Ich...«
Dann ballte er die Hand zur Faust und rieb sie kreisförmig auf der Brust.
»... bitte um Verzeihung...«
Er hob den Daumen, richtete ihn nach oben und machte eine hämmernde Bewegung.
»... dafür, dass ich Euch durch mein Tun...«
Er schleuderte die Faust aus dem Handgelenk vor und zurück.
»... Ärger bereitet habe.«
Der Marschall schaute eindringlich seinen Sohn an. Skepsis und Hoffnung hielten sich die Waage. Dann wandte er sich an Koolhaus.
»Woher weiß ich, dass wirklich mein Sohn spricht und nicht Ihr?«
Koolhaus hatte etwas von seinem gewöhnlichen Selbstbewusstsein wiedergewonnen.
»Das könnt Ihr niemals, Euer Gnaden. Genauso wenig wie irgendein Mensch mit Gewissheit sagen kann, dass er allein ein denkendes und fühlendes Wesen ist, während alle anderen nur Maschinen sind, die nur vorgeben, zu denken und zu fühlen.«
»O weh«, entfuhr es dem Marschall. »Ein Erzeugnis der Hirnpflanzschule, wie es im Buche steht.«
»Das bin ich tatsächlich. Und doch ist alles wahr, was ich sage. Ihr wisst, dass andere Menschen fühlen und denken wie Ihr es tut, weil Eure Vernunft euch gelehrt hat,
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