Die Liste
Gottesdienste bis tief in die Nacht dauerten und erst ein Ende fanden, wenn Geist und Seele erschöpft waren. Ich konnte mich noch lebhaft an die Ostergottesdienste der Episkopalkirche erinnern, die von Gesetzes wegen nicht länger als eine Stunde dauern durften.
»Beten auch Weiße in Ihrer Kirche?«, fragte ich.
»Nur in Wahljahren. Dann schnüffeln dort Politiker wie Hunde herum und machen viele Versprechungen.«
»Bleiben sie für den ganzen Gottesdienst?«
»O nein, dafür sind sie viel zu beschäftigt.«
»Dann kann man also kommen und gehen, wie es einem gefällt?«
»Sie schon, Mr Traynor. Wir machen eine Ausnahme.«
Sie begann mit einer langen Erzählung über ihre Kirche, die nur einen kurzen Spaziergang entfernt und vor ein paar Jahren durch einen Brand zerstört worden sei. Die Feuerwehr, deren Wache natürlich auf der anderen Seite der Schienen beheimatet war, hatte es nie eilig, wenn der Notruf aus Lowtown kam. Die Gemeindemitglieder hatten ihre Kirche verloren, doch das Unglück erwies sich als Segen. Reverend Small scharte seine Schäfchen um sich und zog mit ihnen für fast drei Jahre in ein Lagerhaus um, das Mr Virgil Mabry, ein anständiger, christlich gesonnener Weißer, der schwarzen Gemeinde zur Verfügung gestellt hatte. Das Gebäude war nur einen Häuserblock von der Main Street entfernt, und viele Weiße konnten sich nicht mit der Vorstellung abfinden, dass Neger auf ihrer Seite der Stadt Gottesdienste 140
abhielten. Aber Mr Mabry hielt dem Druck stand.
Reverend Small sammelte das erforderliche Geld und eröffnete drei Jahre nach dem Brand das neue Gotteshaus, das doppelt so groß wie die alte Kirche und jeden Sonntag bis auf den letzten Platz gefüllt war.
Ich liebte es, Miss Callie zuzuhören. So konnte ich ohne Pause essen, und das hatte für mich Vorrang. Außerdem war ich immer noch fasziniert von ihrer präzisen Aussprache, ihrem Sprechrhythmus und ihrem differenzierten Vokabular, das Universitätsniveau hatte.
»Lesen Sie häufig in der Bibel?«, fragte Miss Callie, nachdem sie die Geschichte von der neuen Kirche zu Ende erzählt hatte.
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf, während ich gerade auf einer weißen Rübe herumkaute.
»Nie?«
Es kam mir nicht in den Sinn, sie anzulügen. »Niemals.«
Wieder war sie enttäuscht. »Wie oft beten Sie?«
»Einmal die Woche – und zwar hier«, antwortete ich nach kurzem Zögern.
Sie ließ das Besteck langsam sinken, legte es neben den Teller und blickte mich stirnrunzelnd an, als wären jetzt ein paar ernste Worte angebracht. »Wenn Sie nicht in die Kirche gehen, nicht in der Bibel lesen und nicht beten, bin ich mir nicht so sicher, ob Sie wirklich ein Christ sind.«
Da war ich mir auch nicht sicher. Ich kaute weiter, um mich nicht verteidigen zu müssen.
»Jesus hat gesagt: ›Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.‹ Es steht mir nicht zu, über die Seele eines anderen zu richten, aber ich muss gestehen, dass ich mir um Ihre Sorgen mache.«
Auch ich machte mir Sorgen, aber es war nicht so 141
schlimm, dass ich deswegen das Essen unterbrochen hätte.
»Wissen Sie, was mit denen geschieht, die den Willen Gottes ignorieren?«
Nichts Gutes, so viel war mir klar. Doch ich war zu hungrig und zu eingeschüchtert, um zu antworten.
Mittlerweile war sie vom Essen zum Predigen übergegangen, und ich fühlte mich nicht besonders wohl.
»Paulus hat in den Römerbriefen geschrieben: ›Denn der Lohn der Sünde ist der Tod, die Gabe Gottes aber ist das ewige Leben, in Christus Jesus, unserem Herrn.‹
Verstehen Sie, was das bedeutet?«
Ich hatte eine leise Ahnung, nickte und schob mir ein Stück Rinderkeule in den Mund. Hatte sie die ganze Bibel auswendig gelernt? Musste ich sie mir jetzt komplett anhören?
»Der Tod ist nur körperlich, aber der Verlust der Seele bedeutet eine Ewigkeit ohne unseren Herrn Jesus, eine Ewigkeit in der Hölle, Mr Traynor. Begreifen Sie das?«
Sie hatte sich deutlich genug ausgedrückt. »Können wir nicht das Thema wechseln?«, fragte ich.
Plötzlich begann Miss Callie zu lächeln. »Natürlich. Sie sind mein Gast, und als Gastgeberin muss ich dafür sorgen, dass Sie sich wohl fühlen.« Sie griff wieder nach der Gabel, und für eine Weile aßen wir schweigend und lauschten dem Regen.
»Es war ein sehr feuchter Frühling«, bemerkte sie schließlich. »Gut für Bohnen, aber meine Tomaten und Melonen brauchen etwas Sonne.«
Ich war froh darüber, dass sie auch für die Zukunft
Weitere Kostenlose Bücher