Die Listensammlerin
Herzklopfen (aber auch noch mehr Stolz, mehr Freude, auch wenn Freude heute wohl nicht angebracht war), dass sie Pasternaks Haus nun tatsächlich betreten würden. Dass sie vor seinem Sarg stehen und kurz, kurz einen Blick auf den großen Dichter erhaschen könnten. Kostja und Tanja, deren Hände sich nicht mehr berührten, betraten das Haus mit einer Selbstverständlichkeit, als wären sie hier schon häufiger Gäste gewesen. Er musste nur noch ein paar Schritte gehen. Pianomusik von nebenan, fiel ihm auf, bei dem Begräbnis seiner Großmutter war es so still gewesen, absolut still. Boris Pasternak trug einen schwarzen Anzug, eine weiße Chemisette und hatte ein eingefallenes, weiß-gelbliches Gesicht und graue Haare, was ihn überraschte, weil er so viele Menschen darüber hatte sprechen hören, wie jung Pasternak gestorben war. Schön sah der Dichter aus, dachte er, und eine angemessenere oder wortreichere Beschreibung fiel ihm nicht ein. Er musste weinen, nicht heulen, er spürte wenige Tränen auf seinen Wangen und hätte nicht sagen können, ob sie der Trauer, der Ehrfurcht, der Rührung oder einfach der Solidarität zu den weinenden Menschen um ihm geschuldet waren. Drei Kränze standen am von Blumensträußen überdeckten Sarg, er konnte «Poet» und «Freund» lesen. Abends, im Zug, würde Tanja ihm erzählen, dass einer davon Kornej Tschukowski war. Kornej Tschukowski war der Held seiner Kindheit gewesen (geliebt hatte er seine Kinderbücher, er konnte sie bis heute auswendig; er hatte nicht verstanden, warum Stalin den Mann, der den netten Tierdoktor erfunden hatte, nicht gemocht hatte. Aber welches sowjetische Kind hatte Tschukowski und seinen Tierdoktor nicht geliebt? Dann fiel ihm ein, dass er früher schon nicht sein wollte wie andere sowjetische Kinder, jetzt nicht wie andere sowjetische Menschen, er wollte wie Tanja sein oder die anderen hier auf dem Begräbnis, die anderen mit Mut.)
Aus den Augenwinkeln sah er, wie Kostja seinen inzwischen leicht welken und auch sonst in Mitleidenschaft gezogenen Blumenstrauß fast zärtlich auf die anderen legte; auch ihm strömten Tränen über das harte, knochige Gesicht. Grischa warf einen unauffälligen Blick um sich, fast allen anwesenden Männen, den jüngeren wie den älteren, war die eine oder andere Träne gekommen, einige schluchzten gar, das imponierte ihm und war ihm neu: dass Männer weinten. Er hatte noch nie einen Mann weinen sehen, sein Vater hatte nie geweint, nicht einmal, als dessen Mutter beerdigt wurde, geschweige denn bei anderen Gelegenheiten, wann denn auch, auch bei Stalins Tod im Übrigen nicht. «Männer weinen nicht», hatte man ihn gelehrt, was er nicht verstanden hatte, waren Männer denn nie traurig? Darüber hatte er nachgedacht, damals, beim Begräbnis seiner Großmutter. Ob er es wohl hinbekommen würde, nicht zu weinen, sollte seine Mama sterben? Hier jedenfalls weinten die Männer, auch Kostja, und sie wischten sich die Tränen nicht schnell verschämt weg.
Draußen im Garten traf Kostja eine Gruppe von Menschen, offensichtlich Studenten, die er kannte, und er folgte ihm und konzentrierte sich dabei auf seine aufrechte Haltung, die Füße schmerzten inzwischen beträchtlich. Kostja stellte ihn vor, ihm aber nicht die anderen, obwohl sie ihm freundlich zunickten. Tanja war nicht mehr zu sehen, da aber Kostja dies nicht kümmerte, sollte es auch ihn nicht quälen. Sie sprachen über Pasternak und über Bella Ahmadulina, die angeblich auch irgendwo hier war, und er nickte, als wüsste er, wie sie aussah, als kenne er sie, und nach ein paar Minuten warf er in das Gespräch ein, man vergesse so häufig Pasternaks Lyrik (und hoffte, dass Kostja nicht gehört hatte, wie der Langhaarige im Zug genau dies zu Tanja gesagt hatte, aber Kostja blickte ihn genauso beeindruckt an wie die anderen). Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile, bis sich plötzlich eine Stille über den Garten legte. Der Sarg des großen Dichters wurde gleich hinausgetragen, aber bis es so weit war, stand er nicht mehr einen Schritt hinter Kostja, sondern mitten im Kreis, hatte sein viel zu warmes Jackett ausgezogen und es locker über die Schulter gehängt. Inzwischen wusste er, dass der Rothaarige mit den vielen Sommersprossen Hasenkopf genannt wurde und dass Galja, die ihn immer wieder anlächelte, jemanden kannte, der jemanden kannte, der jederzeit an westliche Rockmusik herankam. Es tat ihm fast leid, dass das Gespräch erst vom Schweigen, dann vom Sarg
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