Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
Vom Netzwerk:
nach vorne, und er hörte nicht mehr zu, welches Thema, wie viel Text, welche Richtung, weil er alle Konzentration aufbringen musste, ganz ruhig und unaufgeregt (anstatt jauchzend, kreischend, sich dem Blonden um den Hals werfend) und auch nicht zu laut zu antworten:
    «Ja, könnte ich schon machen. Ich denke mal darüber nach.»
    «Was meinst du? Worüber denkst du nach? Ob du es machst oder über das Thema?»
    Und er schaffte es zu sagen: «Über beides.»
    Das Begräbnis des großen Dichters Pasternak war mit großem Abstand und unangefochten der bislang beste Tag seines Lebens, ganz klar.

[zur Inhaltsübersicht]
    Sechstes Kapitel
    An der letzten Tankstelle auf dem Weg zum Haus meiner Eltern hielt ich nach langem soll ich? oder soll ich nicht? und kaufte zehn Päckchen Panini-Fußballbilder: drei für Flox, sieben für meine Mutter. Ich tat es widerwillig, aber berechnend. Widerwillig, weil ich diese sinnlose Sammelei eigentlich weder finanziell noch ideell zu unterstützen gedachte, berechnend, weil ich hoffte, meine Mutter damit in die kindliche und in ihrem Alter deshalb lächerliche Aufregung versetzen zu können, in die sie immer verfiel, wenn sie Fußballergesichter, die sie nicht auseinanderhalten konnte (immerhin kannte sie Lahm vom Sehen und Neuer vom Namen, wobei sie überzeugt war, dass dessen Name Neunter war; vielleicht dachte sie auch, neun sei seine Trikotnummer; wusste sie überhaupt, dass Trikots Nummern hatten?), in ein Heft kleben konnte, schön Kante auf Kante, wie ein Kind, das sich beim Basteln konzentriert. Wenn es mit dem Auf-Kante-Kleben mal nicht klappte, verzog sie verärgert das Gesicht. Ich hoffte, in dieser kindlichen Stimmung würde sie vielleicht meine Fragen beantworten oder ihnen zumindest nicht sofort ausweichen.
    Die Tütchen für Flox waren im Grunde ebenfalls für meine Mutter, da Flox die Panini-Bilder auch nur für sie sammelte, damit sie jemanden zum Tauschen hatte. Lieb, dass er meiner Mutter und damit auch irgendwie mir zuliebe, obwohl ich diese Sammelleidenschaft ja verachtete, sammelte. Ein Akt der Liebe sozusagen, dennoch ärgerte es mich, als würden sich die zwei gegen mich verschwören, als wäre das Sammeln und Tauschen («Hast du Xabi Alonso?», fragte Flox meine Mutter und fügte auf ihren fragenden Blick hinzu: «Ein Spanier». «Sind die Spanier die Roten oder die mit den kurzen Namen?», fragte sie nach) ein Akt, der sich gegen mich alleine richtete, ein Versuch, gegen mich eine Koalition zu schließen, die mich in die Opposition zwingen würde. Übermannte mich der Ärger, war ich jedes Mal versucht, meiner Mutter die Wahrheit zu sagen, nämlich dass Flox sich für sein Panini-Album schämte, es nie Freunden gegenüber erwähnte, wenn sie zusammen die zu den Alben gehörigen Europa- und Weltmeisterschaften tatsächlich schauten, bei uns auf der Couch, sie mitfieberten, fachmännisch kommentierten. Er ließ das Album sogar immer im Auto liegen. Dort lag es unter dem Sitz, und bevor wir uns auf den Weg zu meinen Eltern machten, kaufte er ein paar Tütchen und klebte die Bilder ein, während ich fuhr, nicht unbedingt genau auf Kante, und ich bremste an den Ampeln scharf und beim Abbiegen möglichst wenig, ein kleiner Racheakt. Er verklebte sich oft. Rache? Ich wollte ihr so gerne in meiner Wut entgegenschleudern, Flox sammelt ja nur aus Mitleid mit dir, ich wollte sie verletzen und riss mich im letzten Augenblick zusammen. Ich hätte ihr gerne gegeigt, dass es weit unter ihrem, Franks und erst recht unter Tolstojs Niveau war, diese Bildchen zu sammeln. Ich tat es nicht, denn sie hätte es nie verstanden, wahrscheinlich auch ein Akt der Liebe, meinerseits.
    Meine Mutter sammelte Panini-Bildchen ohne das geringste Fußballwissen oder auch nur Interesse am Spiel. «Weißt du, ob der Bundespräsident auch da war?», fragte sie, wenn Flox und Frank und ich uns nach einem wichtigen Spiel unterhielten. Meine Mutter sammelte Panini-Bildchen aus einem einzigen Grund: weil sie es konnte. Sie hatte als Kind schon gesammelt, Briefmarken und Münzen und Anstecknadeln und irgendwelche Bilder, die wohl auf sowjetischen Streichholzschachteln klebten. Nichts davon besaß sie noch heute. Von den Dingen, die sie als Kind gesammelt hatte, erzählte sie wenig, wie sie auch sonst wenig von sich als Kind erzählte, als Kind in einem anderen, großen, fernen und für mich wundersamen Land, von dem Kind, über das ich so gerne mehr gewusst hätte. Lieber sprach sie über

Weitere Kostenlose Bücher