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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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schrumpfen konnte er nun auch nicht mehr. Er hatte noch einen ganzen Tag in diesen Folterschuhen vor sich, und er freute sich sogar ein wenig über den Schmerz an seinen Füßen, der Schmerz als Preis für seinen Mut, den er gerne und mit stolzgeschwellter Brust zahlte.
    Tanja redete über «Doktor Schiwago», die ganze Fahrt lang. Sie mussten stehen, und direkt neben ihm war ein langbärtiger und langhaariger Mann (er konnte die ersten fünf Minuten nicht die Augen von den langen Haaren abwenden), der sich sofort ins Gespräch einklinkte, obwohl Tanja mit Kostja gesprochen hatte, vielleicht auch ein wenig mit ihm, wenigstens hatte sie einmal zu ihm geblickt und «Oder meinst du nicht?» gesagt, ohne eine Antwort abzuwarten. Den Langbärtigen, Langhaarigen hatte sie nicht direkt angesprochen. Sie ließ sich eine Viertelstunde lang darüber aus, wie traurig es war, dass Pasternak den verdienten Nobelpreis nie hatte annehmen dürfen, annehmen können, dass er seine Heimat trotz allem geliebt hatte. Sie hielt eine literarisch-politische Rede, als würden sie nicht von allen Seiten von fremden Menschen bedrängt, fast erdrückt, als wackle nicht der Ellenbogen eines riesigen Kerls zwei Zentimeter vor ihrem Auge, als hielte sich die Frau hinter ihr nicht an ihrem Rucksack fest, weil es sonst nichts zum Festhalten gab. Grischa schwitzte furchtbar in Andrejs Jackett, es hatte im Zug bestimmt dreißig Grad. Er hätte gern jemanden gebeten, ein Fenster zu öffnen, wollte aber keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ihm fiel auf, dass er der Jüngste im Zug war. Also die Schultern zurück, den Hals gerade, den Kopf nach oben. Der Langhaarige warf ein, man vergesse so häufig Pasternaks Lyrik, und er machte sich eine Notiz im Kopf, die er später auf seine Liste übertragen wollte: Pasternaks Gedichte. Es gab noch so viel zu lesen, so viel. Obwohl, und bei dem Gedanken musste er schmunzeln und zu Kostja blicken, es ihm inzwischen – nein, eigentlich schon immer – erstaunlich gut gelungen war, über Bücher oder andere Dinge, von denen er noch nie gehört hatte, so zu sprechen, als sei er ein großer Kenner. Ein Liebhaber oder Verächter dieses oder jenes Autors, Werkes, Stils. Er machte sich dennoch im Nachhinein oft die Mühe, das jeweilige Buch, Werk oder Gedicht zu lesen, nach dem Gespräch, bei dem er gestritten, widersprochen, argumentiert, gewitzelt, aus dem er an besonders guten Tagen sogar erfunden zitiert hatte. Die meisten, zuletzt gestern früh Kostja, konnte er so überzeugen. Er wäre heute nicht hier, hätte er gestern früh nicht so glänzend Kostjas Lieblingsautor Ernest Hemingway auseinandergenommen, mit dem Argument, dass niemand ohne eine russische Seele schreiben, also wirklich schreiben könne. Am Ende seines leidenschaftlichen Vortrags hatte Kostja gelacht, ihm eine Zigarette angeboten (zum ersten Mal) und ihn gefragt, ob er Lust hätte, dem Begräbnis des großen Dichters und Zeitgenossen Boris Pasternak beizuwohnen und dafür mit ihm nach Peredelkino zu fahren. Er würde diesen Hemingway schon noch lesen, sobald er herausgefunden hatte, wie man ihn schrieb. Tanja sprach über den Einfluss Rainer Maria Rilkes auf Pasternak, und er fügte auch diesen Namen der Liste an. In seiner Jacketttasche steckten ein Kugelschreiber und der Notizblock, in dem sich die Liste «zu lesen» befinden müsste, aber er konnte noch nicht einmal seinen linken Arm zwischen den ihn einquetschenden Mitreisenden, geschweige denn seinen Notizblock herausholen, um etwas zu notieren. Vielleicht am Gleis, wenn sie angekommen waren. Sein Vater hatte mal kommentiert, er sähe immer so wichtig aus, wenn er seine Notizen machte. «Was notierst du denn da?», hatte er ihn gefragt, und seine Schwester, die neugierige Göre, hatte sofort eingestimmt: «Oder zeichnest du schon wieder? Er zeichnet auch immer Menschen, alle, auch seine Klassenlehrerin, Papa!» Grischa hatte wortlos das Zimmer verlassen. Er redete schon seit Monaten nur noch das Nötigste mit seinem Vater.
    Tausend, schätzte er, mindestens. Eher mehr. Sein Bruder konnte so etwas gut, schätzen. Wie viele Menschen irgendwo anwesend waren, wie viele Meter bis zum nächsten Haus, wie spät es gerade war, was das Stück Wurst wog. Das war im Übrigen Andrejs einziges Talent, fand er, aber ein gutes, zugegeben. Aber tausend waren es sicher. Viele junge Menschen, Studenten. Viele junge Männer trugen ebenfalls Jackett, manche auch Krawatte, andere nicht. An eine Krawatte hatte er

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