Die Listensammlerin
unterbrochen wurde, er zog sein Jackett wieder an und rief sich in den Sinn, warum er hier war, welcher Zwischenfall ihn auf diese Datscha geführt hatte. Begräbnis, Pasternak, so jung gestorben. Er fühlte sich so wohl wie noch nie.
Später schlug Hasenkopf – es gefiel Grischa, dass sie ihn Hasenkopf nannten – vor, sie sollten noch ein bisschen in den Wald gehen. Spazieren. Vielleicht ein Lagerfeuer machen. Er hatte kurz an seine Eltern gedacht und noch mitten in dem sehr kurzen Gedanken gewusst, dass er Eltern hier lieber nicht erwähnen sollte. Es war inzwischen Nachmittag, die Sonne brannte, und in ein paar Stunden würde seine Mutter von der Arbeit nach Hause kommen und sich dann irgendwann Sorgen machen. Aber vielleicht wäre er bis dahin auch schon zurück. Vielleicht.
Später saß er an einem Lagerfeuer, das sie auf einer Lichtung im Wald gemacht hatten. Er hatte Andrejs Jackett unter sich ausgebreitet, die Schuhe mit den dicken Einlagen ausgezogen (und fünf große und zwei kleinere Blasen gezählt), die oberen drei Knöpfe seines Hemdes aufgeknöpft (wie Kostja und der blonde Typ neben ihm) und hielt einen Stock mit einer aufgespießten Kartoffel in die Asche (wo und wie Hasenkopf Kartoffeln aufgetrieben hatte, die er mit einer Selbstverständlichkeit hervorzauberte, als hätten sie sich von vorneherein zu diesem Picknick verabredet, hatte Grischa nicht verstanden, aber bewundert). Noch später und ein Bier zu viel (woher war das Bier gekommen?) sprach er gerade über Gott beziehungsweise die allumfassende Nicht-Existenz von Gott und wunderte sich über sich selbst, weil, was er sprach, in seinen Ohren gar nicht klang, als habe er ein Bier zu viel getrunken und in Wahrheit keine Ahnung, was er da redete. Zwischendurch hatte er sich jeden Gedanken an seine Mutter verboten, die sich wahrscheinlich Sorgen machte, auch an seinen Vater, der schon wissen würde, wie er ihn für jede einzelne dieser Sorgen bestrafen würde. Kurz darauf hatte Galja sich an ihn gelehnt und nach ein paar Minuten, in denen er nicht gewusst hatte, was er tun oder wie er weiteratmen sollte, hatte er seine Arme um sie gelegt, wie er es bei Kostja und Tanja beobachtete, und sie rutschte noch ein wenig, sodass ihr Rücken an seiner Brust lehnte und er theoretisch ihre Haare hätte riechen können, röche nicht gerade alles nach Feuer und Glut und Asche und Kartoffeln und Bier und überhaupt nach Sommer, irgendwie.
Flammengezüngel spiegelte sich in Kostjas dunklen Augen, das sah schön aus.
Es war nach elf, als sie sich auf den Weg zum Zug machten, weil jemand meinte, dass der letzte Zug demnächst abfahren würde. Ein anderer hatte vorgeschlagen, doch einfach auf der Lichtung beim Lagerfeuer zu übernachten, und er hatte kurz Angst bekommen wegen seiner Eltern. Auch wenn Grischa sich nichts mehr wünschte, als die Nacht, ach sein Leben auf dieser Lichtung mit diesen Menschen zu verbringen. Aber nun waren sie auf dem Weg zum Zug, was ihn traurig stimmte, wie auch seine schmerzenden Füße, die er kaum in die Schuhe bekommen hatte. Das Jackett war nicht nur dreckig und zerknittert, sondern unter einem Ärmel gerissen. Wie das passiert war, konnte er nicht sagen, war aber auch egal, weil er zu Hause ohnehin eine andere Geschichte als diese brauchen würde. Er konzentrierte sich auf den Weg und Kostjas Nacken vor sich, immer schön geradeaus schauen und an nichts denken, erst recht nicht an die Füße und das Jackett und die Bierfahne, die seine Eltern riechen würden, sobald er die Wohnung betrat. Der Blonde holte ihn ein, ging nun neben ihm. Er hatte neben ihm gesessen, nicht viel gesprochen, aber viel zugehört, seinen Namen hatte er sich nicht gemerkt. Der Blonde begann mit ihm zu reden, er schien davon auszugehen, dass er schon länger dazugehörte, netterweise sagte Kostja nichts, der sich umgedreht hatte, als er hörte, worum es in dem Gespräch ging. Ob Grischa nicht bei der Zeitschrift, die sie im Samisdat herausgeben wollten, die erste Ausgabe war so gut wie fertig, mitmachen wollte? Ob er nicht dafür schreiben wollte? Er hatte im Laufe des Nachmittags gehofft, dass er vielleicht den einen oder anderen Auftrag anbahnen konnte, dies oder jenes zu hektographieren, jenes irgendwo abzuholen, ein paar Broschüren unter die richtigen Leute zu bringen. Ob er nicht schreiben wollte, fragte der Blonde nun fast unterwürfig, eine eigene Rubrik, ein Thema seiner Wahl, jeden Monat einen Text? Kostja grinste ihn an, drehte sich wieder
Weitere Kostenlose Bücher