Die Listensammlerin
Fußballbildchen. Sie hatte mit dem Sammeln angefangen, als ich noch ein Mädchen war und Pferde- und Internatsgeschichten las. Sie arbeitete damals in einem Schulhort, nicht in meiner Schule, eine Erzieherin ohne Ausbildung, aber mit viel Erfahrung, die Kinder mochten sie, was mich stolz machte. Meine Mutter beobachtete, wie die Kinder im Hort Tag für Tag ihre Alben mitbrachten, Bildchen tauschten, Sammelstände verglichen. Sie fragte und ließ sich von ihren Idolen erzählen – endlich ein Erwachsener, der Interesse und Begeisterung für Karl-Heinz Rummenigge im Sammelalbum zeigte. Ihr erstes Album bekam sie von den Viertklässlern zum Abschied am Schuljahresende geschenkt, zwei Jahre später war sie eine der beliebtesten Tauschpartnerinnen im Hort. Seit sie nicht mehr dort arbeitete, hatte sie für sich gesammelt und regelmäßig geklagt, dass sie nun nicht mehr tauschen konnte.
«Geh doch auf den Schulhof!», hatte Frank einmal vorgeschlagen, der Versuch eines Witzes, was selten vorkam bei ihm. Frank nahm ihre Sammelleidenschaft hin, wie er auch sonst sie und auch mich hinnahm, ganz so, als sei das Leben an sich etwas Hinzunehmendes. Meine Mutter hatte sich sofort hoffnungsvoll an Flox geworfen, als sie bei einem der ersten Male, da sie ihn traf, von seiner Fußballbegeisterung hörte: «Sammeln Sie dann auch Panini-Bilder?», und sein Lachen als erste Reaktion auf diese Frage nicht verstanden. Weil nicht verstanden, hatte sie ihm stolz ihre Sammlung gezeigt, einen Zeitungsständer voller Panini-Alben. Flox warf mir einen verwirrten Blick zu, auf den ich nicht reagierte, weil ich schon damit ausgelastet war, mich für meine Mutter zu schämen, und meinte: «Ja, früher habe ich auch gesammelt. Mehr so als Kind.» Erst ein halbes Jahr später, kurz vor der nächsten Fußballweltmeisterschaft, hatte er mich nach diesem ihrem Hobby gefragt, vorsichtig, auf die sensible Flox-Art, in die ich mich auch verliebt hatte, neben seinen verwuschelten Haaren. Ich hatte es ihm zu erklären versucht – Sowjetunion, Mangelwirtschaft, Sammelleidenschaft, Kindheit nachholen –, er hatte trotzdem gefragt: «Aber sie hat Tolstoj gelesen! Alles von ihm! Und all die anderen Russen auch!» Ich hatte es nicht besser erklären können.
Das erste Album hatte er sich gekauft, ohne es mit mir abzusprechen oder mir auch nur davon zu erzählen. Als wir meine Eltern dann besuchten, sagte er aus heiterem Himmel beim Kaffee zu meiner Mutter: «Anastasia, ich habe jetzt auch ein Album. Hast du schon Bilder doppelt, zum Tauschen?», und meine Mutter hatte gestrahlt. Ein perfekter Schwiegersohn. Sie sammelten von da an gemeinsam, es war nun ihre dritte gemeinsame Panini-Sammel- EM .
Wie immer begrüßte mich Lev als Erster. Ich schloss die Tür selbst auf, weil ich hoffte, dass Anna noch schlafen würde, meine Mutter hatte sie aus der Kita geholt. Lev blickte mich freundlich an, ich hatte schon immer gedacht, dass Lev gütig wirkte, gütig, ein Wort, das ich nicht aktiv verwendete, und eigentlich passte es auch hier nicht; ich wusste zu viel über Lev. Wahrscheinlich blickte er nur auf diesem Foto gütig, dem berühmtesten Bild von ihm, vielleicht hatte es seine Frau deshalb ausgesucht. Wer das Haus meiner Eltern betrat, erblickte als Erstes Lev Nikolajewitsch Tolstoj, dessen überdimensionales, gerahmtes Porträt direkt gegenüber der Tür hing. Dass dieser erste Anblick Besucher verwirren konnte, überraschte mich, als ich es irgendwann bemerkte. Ich war unter diversen Porträts von Leo Tolstoj aufgewachsen, selbst über dem Bett hatte eines gehangen, bis ich es mit acht Jahren gegen ein Pferdeposter eintauschte, was meine Mutter und Frank übrigens wortlos akzeptierten. Ich war es gewohnt, dass der gütige Mann auf mich herabschaute, fand seine Anwesenheit beruhigend, wie die eines persönlichen Schutzpatrons. Bei uns zu Hause überkam einen schon mal das Gefühl, er sei Gott persönlich. Ich nannte ihn «Onkel Lev», auch als mich die Mutter meiner Schulfreundin Luisa einmal fragte, wer denn «der Herr mit dem Bart» am Eingang sei. «Onkel Lev», sagte ich nachdrucksvoll und fügte wie eine großmäulige Museumsführerin hinzu: «Lev Nikolajewitsch Tolstoj. Ein großer russischer Dichter. Einer der größten Dichter überhaupt, die es je auf der Welt gab. ‹Krieg und Frieden›, ‹Anna Karenina›, ‹Die Kreutzersonate›. Lebte 1828 bis 1910 . Verstarb in einem Bahnhofshäuschen.» Letzteres Detail faszinierte mich damals
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