Die Listensammlerin
gar nicht gedacht, so ein Mist, sein Vater hatte sogar zwei, noch so viel zu lernen, so viel. Er versuchte, Kostja nicht aus den Augen zu verlieren, der war zum Glück groß, sicher eins achtzig, er drückte seinen Tulpenstrauß an die Brust und schlängelte sich gekonnt durch die Menschen. Mit der rechten Hand hielt er den Strauß, der schon im Zug gelitten hatte, mit der linken umfasste er Tanja, die er hinter sich zog, obwohl sie nicht wirkte, als müsste sie gezogen werden. Er folgte den beiden, durch die anderen hindurch.
Die Menschen drängten alle in dieselbe Richtung, manche schweigend mit ernsten, konzentrierten Mienen, als wäre jeder Schritt ein zu lösendes Problem, andere lachten – auf dem Weg zu einem Begräbnis! Aber böse, missbilligende Blicke konnte Grischa nicht entdecken. Er wollte hier bleiben, für immer. Er wollte in Peredelkino sein, unter diesen Leuten, nirgendwo sonst. Er grinste und wurde sich dessen erst mitten im Grinsen bewusst. Zwei Milizionäre hatte er gesehen, einer trug die Schulterklappen eines Majors. Sein Herz hatte kurz etwas lauter geklopft, und er hatte seinen Kopf noch höher gestreckt und war mehrere Schritte auf Zehenspitzen gegangen, ja, genau, er war auch da. (Die Blicke der Milizionäre hatten ihn noch nicht einmal gestreift.)
«Da hinten stand ein Botschafterauto», sagte eine junge Frau zu ihm, lange schwarze Haare, große Sonnenbrille, Buttons auf der Jacke (Grischa erkannte die Gesichter darauf leider nicht und konnte die Schrift nicht auf die Schnelle entziffern). Hatte sie seinen Blick zu den Milizionären bemerkt? Ihn beobachtet? Hatte sie gedacht, er hätte Angst? Hatte er nicht!
Er lächelte, lächelte so, wie es den Mädchen aus seiner Klasse gefiel, auch wenn er nicht wusste, warum das so war, er hoffte, bei den Mädchen aus den Hochschulen wirke es genauso.
«Ja, habe ich gesehen. Viel Aufmarsch.» Er hatte keine Ahnung, wie ein Botschafterauto aussah.
«War ja klar», antwortete sie und lächelte zurück. Dann war sie weg. Sie bogen in die Pawlenko-Straße ein, Datschas um sie herum, vor einer tummelten sich die Leute. Pasternaks Datscha, ein Holzhaus wie die anderen, zwei Stockwerke, große weiße Fenster unten wie oben, ein Erker. Dahinter begann der Nadelwald. Grischa schloss kurz die Augen, vergegenwärtigte sich, was er da sah, und machte sie wieder auf, um zu überprüfen, ob er sich alles gemerkt hatte. Das übte er jetzt seit ein paar Monaten, ein guter Trick. Er würde Farben nehmen müssen, obwohl er derzeit eigentlich nur noch Kohle verwendete, begeistert schwarzweiße Welten darstellte und nur aus Konturen bestehende Menschen, er würde diesmal Farben brauchen wegen des weißen und lilafarbenen Flieders, der übermütig blühte, ohne jede Ahnung davon, dass heute und hier, vor seinen Ästen, ein großer und viel zu junger Dichter, der als einer der wenigen erkannt hatte, was an dem sozialistischen System, in dem auch dieser Flieder wuchs, nicht stimmte, zu Grabe getragen wurde. Die Stämme der Apfelbäume waren krankhaft dünn, auch das merkte er sich.
«Da ist Bulat Okudzhawa», flüsterte jemand, die anderen nahmen das Flüstern auf, und er hörte es von mehreren Seiten, Bulat, Bulat, Bulat, Okudzhawa, er sah sich um nach der dunklen Mähne des Sängers und seiner Gitarre und machte sich dann klar, dass Bulat Okudzhawa seine Gitarre nicht zu einem Begräbnis mitbringen würde (oder hätte das Boris Pasternak gefallen?).
Er wollte hier bleiben. Er fragte sich, ob Pasternak und Okudzhawa einander gekannt hatten, bevor sie berühmt geworden waren. Ob große Talente aufgrund ihrer Talente zusammenkamen, sich früh erkannten, und nicht erst später aufgrund ihrer Berühmtheit. Ob es sein könne, dass in ein paar Jahren (und das klang noch sehr weit weg) er und Kostja und Tanja vielleicht berühmt sein würden, nicht weil sie sich jetzt schon kannten, sondern weil talentierte Menschen eben immer zusammenfanden. Er zeichnete und malte, er konnte sich aber auch vorstellen zu schreiben (etwas anderes außer Listen), und er hatte eine schöne Stimme (sagte die Musiklehrerin). Gitarre spielte er nicht, auch sonst kein Instrument. Kostja schrieb, Lyrik vor allem, und Tanja, Tanja kannte er noch nicht gut genug, bestimmt hatte sie auch Talente.
Grischa hatte sich das Begräbnis im Vorfeld bewusst nicht ausgemalt. Von dem seiner Großmutter würde es sich sicherlich unterscheiden, es traf ihn also überraschend und verursachte noch größeres
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