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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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einer Stunde um mich herum. Hast du ihr gestern was gegeben?»
    «Ja, die Kartoffelschalen. Und Milch.» Grischa hoffte, es war gestern gewesen. Gestern war Dienstag, und am Dienstag … Er musste Maschka tatsächlich dringend mal füttern. «Kis, kis …», machte er, um sie anzulocken, auf dem Weg in die Küche, die Einlagen in der rechten Hand. Mindestens wie sechzehn aussehen, das sollte er mit den Einlagen hinbekommen.
    Grischa war schon um neun, eine halbe Stunde zu früh am Kiewer Bahnhof. Die Schultasche hatte er nach der ersten Stunde einfach unter seiner Schulbank liegen lassen, damit niemand auf die Idee kam, er sei ein Schüler. Er hoffte außerdem, die dort liegende Tasche hätte möglicherweise den angenehmen Nebeneffekt, dass den Lehrern seine Abwesenheit nicht sofort auffiel. Der Hoffnungsschimmer war klein, weil seine Anwesenheit in der Schule sich durch Lautstärke, Kommentare und Streiche kundtat und seine Abwesenheit folglich durch das Fehlen dieser bemerkbar machte, aber er hielt sich an der Hoffnung fest, Dantès und Faria hatten schließlich auch immer weiter am Tunnel gegraben, auch wenn die Hoffnung winzig war. Das Jackett seiner Schuluniform hatte er in die Schultasche gestopft, das schwarze seines Bruders hervorgeholt und angezogen, es war leicht zerknittert, aber nicht so, dass er es nicht hätte tragen können.
    Am Fahrkartenschalter hing ein einfacher Zettel, die Beerdigung des großen russischen Dichters und Zeitgenossen Boris Leonidowitsch Pasternak finde heute, am 2 . Juni, auf dem Friedhof in Peredelkino statt. Grischa stellte sich an die Seite, beobachtete die Menschen, fragte sich, wer wohl ebenfalls – nein, der mit dem Aktenkoffer sicherlich nicht, die beiden jungen Frauen vielleicht  –, er erinnerte sich daran, die Schultern nach hinten zu drücken, kontrollierte, ob seine Haare noch hinter den Ohren steckten. Es war jetzt schon zu heiß für das Jackett, aber er fühlte sich trotzdem wohl darin, erwachsen. Er war gespannt auf Peredelkino, über das er nur gehört hatte, dass dort viele bekannte Schriftsteller lebten. Das Haus der Künste, eine Art Ferienheim für schöpferische Menschen, war auch dort. Er fragte sich, ob er die Schriftsteller als solche erkennen würde, und versuchte, die Bilder von Puschkin, Tolstoj und Gogol vor seinem inneren Auge zu verscheuchen. Schule. Wozu Schule? Er verstand es einfach nicht. Angst hatte Grischa keine, erstaunlicherweise. Obwohl er Angst nicht kannte, hatte er doch erwartet, ihr heute eventuell begegnen zu dürfen; nicht, dass er sich nach einem derartigen Treffen sehnte; er wunderte sich nur manchmal selbst über sich, weil ihm Angst einfach fehlte, wie ihm der ausgeschlagene Zahn rechts oben fehlte, und alle anderen, alle in der Schule und auch alle Erwachsenen, doch hin und wieder von ihr heimgesucht wurden. Angst hatte er keine, obwohl Kostja deutlich gewesen war: «Wer diesem großen Dichter, dieser genialen Seele, die ‹Doktor Schiwago› geschrieben hat, die letzte Ehre erweisen will, braucht Mut. Niemand wird das gerne sehen. Ist dir aufgefallen, dass keine einzige Zeitung seinen Tod auch nur mit einem Wort erwähnt hat?» Es war ihm nicht aufgefallen, weil er die Zeitungen nicht daraufhin studiert hatte und überhaupt viel zu selten Zeitung las, aber er freute sich, einer der Mutigen sein zu dürfen. Er war stolz, nicht verängstigt.
    Kostja tauchte um neun Uhr achtundzwanzig auf, mit einer jungen Frau. Siebzehn, achtzehn, schätzte er, sie war hübsch, nicht schön wie Julia aus seiner Klasse, die alle schön fanden, auch er, aber doch hübsch. Kurze braune Haare, lebendige grüne Augen, viele bunte Ringe an den Händen. Kostja sah auch hübsch aus in seinem gebügelten Hemd, dachte er. Gut, dass er das Jackett angezogen hatte. Beide hatten einen Blumenstrauß dabei, und er ärgerte sich, weil er nicht daran gedacht hatte, einen zu kaufen. Dabei hatten die Gäste beim Begräbnis seiner Großmutter vor einem Jahr auch Blumen mitgebracht. Dumm, dumm von ihm.
    Sie hieß Tanja und begrüßte ihn mit einem festen Handschlag, sie machten sich auf den Weg zum Gleis, wo schon bestimmt hundert Menschen auf die Eisenbahn warteten. Es waren vierzig Minuten Fahrt, hatte Kostja gesagt, ein Moskauer Vorort. Seine Füße schmerzten schon jetzt, die Einlagen machten den Schuh zu klein und krümmten seine Zehen, besonders den großen. Die Idee, sich drei Zentimeter größer zu machen, kam ihm jetzt bescheuert vor, aber plötzlich

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