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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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meine Hand loslassen?»
    «Nein.»
    «Was willst du dann?»
    «So sitzen bleiben. Lange. Deine Hand in meiner halten. Dich spüren. Und du?»
    «Dich küssen.»
    «Dann mach doch!»
    Wer was sagte und wer sich zu wem beugte und wer die Lippen öffnete und wer sich an wen drückte, war egal.
    Der Vorhang fällt.
    Das war die Welt in seinem Kopf, und hervortauchen mochte er in jenen Tagen nicht.
    Manchmal zwang er sich, an den realen Moment vor drei Tagen zu denken, der ihm das Theaterstück in seinem Kopf ermöglichte. Da hatten sie unter der Brücke gesessen, getrunken, obwohl Nachmittag war, geraucht und einmal nicht über Politik gesprochen, sondern über gemeinsame Bekannte und über Mädchen und dann über das Wasser, und Sergej hatte erzählt, dass er, wann immer er Wasser sah – die Moskwa oder den Ladogasee, an dem er seine Verwandtschaft jeden Sommer besuchte –, davon träumte, das Wasser würde ihn weit wegtragen, auf einem Boot oder einem Schiff oder sogar schwimmend, irgendwohin, wo er ein anderer sein könnte, als er heute war.
    «Wie anders?», hatte Grischa ihn gefragt.
    «Ein völlig anderer Mensch. Der anders lebt, anders aussieht, anders wirkt, anders liebt.» Sergej hatte wie immer in die Ferne geblickt, in der nur er etwas anderes als die Fabrikschornsteine sah, die schwarzen, hässlichen Rauch ausstießen, als den verdreckten Fluss, in dem Müll schwamm, wo Fische hätten schwimmen sollen, als er das sagte, und vielleicht hatte Grischa sich deshalb getraut, von seinem Traum, oder war es vielleicht ein Tagtraum gewesen, zu erzählen.
    «Ich habe von dir geträumt», hatte er angefangen, und Sergej hatte gelacht und, ohne ihn anzuschauen, entgegnet: «War ich in deinem Traum nackt?»
    Er war, nachdem dieser Satz gefallen war und zwischen ihnen in der Luft hing wie ein Schmetterling, der sich für eine Flugrichtung noch nicht entschieden hat und deshalb nur flattert, so aufgeregt, aber auch so beschämt gewesen, dass er sich, stellte er im Nachhinein enttäuscht fest, nicht alles gemerkt hatte, nicht genug jedenfalls, um es wieder und wieder durchleben zu können, analysieren zu können, und manchmal wusste er nicht mehr, was nun tatsächlich gesagt worden war und was nur in seinem Kopf. Es passierte ihm in jenen Tagen häufig, dass sich die Welten vermischten, dass er nicht mehr wusste, was wirklich geschehen war und was in seinem Kopf. Es störte ihn nicht.
    Irgendwann hatte Sergej, als sie da so unter der Brücke saßen, gesagt, dass er ein schönes Lächeln habe, aber vielleicht hatte er das auch nicht gesagt.
    Später oder auch davor hatte Sergej gesagt, dass ihm seine Kameradschaft inzwischen so wichtig geworden sei, dass er diese Kameradschaft nicht verlieren wolle. Er hatte hinzugefügt, oder eben nicht hinzugefügt, also nur in Grischas Kopf, dass er die Kameradschaft nicht durch andere Dinge gefährden wolle. Die anderen Dinge hatte er nicht weiter ausgeführt und wie immer dabei in die Ferne geblickt.
    Er hatte, als er Sergej von seinem Traum erzählte, oder war es ein Tagtraum gewesen, Andeutungen gemacht, so deutlich sie ihm eben über die Lippen kamen. Sergej war nicht aufgestanden und gegangen, er hatte sich nicht von ihm weggesetzt, er hatte ihn nicht ausgelacht. Daran erinnerte er sich, das war real. Sergej hatte ihn angelächelt, und dann hatte Sergej wieder in die Ferne geschaut.
    Diese Erinnerungen waren fruchtbarer Boden für die Theaterstücke in seinem Kopf gewesen. «Wo schwebst du nur?», fragte seine Mutter, und selbst seine Schwester erkundigte sich, was mit ihm sei, und seine Kameraden, Sascha, Kostja und Kolja und Hasenkopf und Rudin, alle wunderten sich, wo er mit seinen Gedanken war, und Gerüchte machten die Runde, er hecke wieder etwas aus, etwas Großes diesmal, etwas Geniales bestimmt, er zuckte mit den Schultern.
    Jenen Tagen, als die Welt in seinem Kopf die tatsächliche überwältigte, sollte die Ernüchterung folgen und dann der Schmerz. Dem Schmerz sollte er zu entfliehen versuchen, indem er sich in weitere Träume flüchtete, in denen Sergej sich seine Angst eingestand – Sergejs Angst war die Prämisse dieser seiner Träume –, sich ihr stellte, sie überwand. Aber in die Träume drängte sich nun die Realität, die er auch mit dem Kissen, unter dem er seinen Kopf vergrub, nicht ausschließen konnte, und so sollte er beginnen, die Realität mit Logik und Plänen, die er in Ziele und Unterziele und konkrete Einzelschritte unterteilte, zu bekämpfen.

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