Die Listensammlerin
und nicht halb so viele gute Ideen hatte wie seine Freunde, begann ihn zu ärgern.
«Aber ist gut, dass du vorbeigekommen bist», sagte Sergej. «Überhaupt gut, dass wir Kameraden geworden sind. Einfach gute Kameraden.»
In der Realität, da war er nach diesen Worten, nachdem Sergej zum Abschied die Hand gehoben hatte und er sich nicht die Mühe gemacht hatte, darauf zu reagieren, vom Mauervorsprung hinabgesprungen und dann ganz lange geradeaus gelaufen, er achtete darauf, nicht abzubiegen, an nichts zu denken, er achtete nur auf seine Schritte, die ihn vorwärts führten, auf ihren Rhythmus, eins, zwei, drei, vier, fast wie ein Soldat, und er achtete darauf, über den Gleichschritt der Soldaten nachzudenken, und ob es nicht zu anstrengend sei, die Füße in den schweren schwarzen Stiefeln beim Marschieren immer so hochzureißen, das geht doch sicher auf die Schenkel, er versuchte es ein-, zweimal, und die Menschen, die ihn passierten, schauten ihn verwundert an oder eilten an ihm vorbei, ohne ihn wahrzunehmen, das wollte er auch, an den Menschen vorbeieilen und nichts wahrnehmen, vor allem nicht die Realität.
Je weiter er lief, desto einfacher wurde das Laufen, ein Schritt, und dann der nächste, ein Bein, dann das andere, und wieder von vorne, eins, zwei, drei, vier, er zählte nicht mehr, er lief nur noch, so lange, bis der Hunger in seinem Bauch zu grummeln begann, der Hunger, den er plötzlich wieder spürte, worüber er kurz staunte und sich dann freute, er schaute sich um, versuchte, sich zu orientieren, und bog endlich nach links ab, wo er die nächste Metrostation fand, sie betrat, die lange Rolltreppe hinunterlief und nach Hause fuhr, um etwas zu essen. Es gab Borschtsch, eines seiner Lieblingsgerichte. Der Tag zog sich hin, er war müde vom Laufen und hungrig, er sprach mit seiner Mutter, seiner Schwester, sogar kurz mit seinem Vater, er wollte nicht mehr träumen, weder tags noch nachts, er war ernüchtert. Er fühlte sich wie verkatert, nur ohne den Kopfschmerz. Er fühlte sich lustlos. Und müde, so müde. Er versuchte, früh schlafen zu gehen, aber dann lag er im Bett und starrte die Decke an, ohne zu denken. Der Schmerz kam erst später, dafür umso heftiger, er versuchte, ihm noch einmal mit Träumen zu entfliehen, aber nach einer Stunde oder zwei fand er sich auf dem Mauervorsprung wieder, wo Sergej nicht mit ihm an den Fluss gehen wollte und viel zu viel Abstand hielt und plötzlich von Prüfungen sprach, von denen er ihn noch nie hatte sprechen hören, und von Kameradschaft, als sei er ein Pionier.
Er zwang sich, an Sergejs pionierhafte Rede über Kameradschaft zu denken, weil sie ihn ärgerte, er wollte sich lieber über Sergej ärgern, als von ihm zu träumen, von Sergejs Händen und seinem ernsten Lächeln mit der Andeutung, von Sergej, der in seinem Zimmer auf dem Bett seines Bruders saß und schwadronierte, der ihm eine Zigarette reichte, ihn von seinem Käsebrot abbeißen ließ, im Gras lag und in den Himmel schaute, überhaupt von Sergej, der immer seine eigene Ferne hatte, in die er schaute. Pf. Wer brauchte schon einen Pionier? Er lebte, und er wollte das Leben ändern.
Es dauerte zwei Tage, bis er sich aufgerafft hatte, gegen Mittag aus dem Bett sprang, sich anzog und auf den Weg machte, um die Truppe zusammenzutrommeln, es wurde jetzt wirklich an der Zeit, etwas zu tun, und unterwegs, da kam ihm eine Idee, weshalb er seinen Plan änderte und in die andere Richtung lief, weil es schon einen Plan gab, der in seinem Kopf entstanden war, jetzt, auf diesem Weg, oder vielleicht schon früher. Es war ein guter, ein mutiger Plan, ein Plan, der ihn selbst ein wenig ängstigte.
Er drehte um und machte sich auf den Weg zu Sascha, weil es nur einen gab, der in diesen Plan einwilligen würde, das wusste er, sein treuer Sascha, das musste reichen, sie brauchten nur noch einen Ausländer dazu. Vielleicht hatte Sascha eine Idee.
Es musste nun wirklich was passieren, für Sergej und Träumereien hatte er keine Zeit.
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Elftes Kapitel
Das Telefon klingelte um zwei Uhr vierundfünfzig in der Nacht, und mein Gehirn tat mir erst einmal den Gefallen und baute das Klingeln in meinen Traum ein, das Läuten von Kirchenglocken, und als ich endlich aufschreckte und die Augen öffnete, war es schon zu spät, der Anrufbeantworter sprang an. Mein erster Gedanke war Anna, was absurd war, weil Anna neben mir im Bett lag und sich die ganze Nacht wie ein Uhrzeiger im Schlaf gedreht
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