Die Listensammlerin
sorglos, was mich ärgerte, weil ich mich so allein fühlte mit meinen Sorgen, obwohl ich wusste, dass ich es nicht war. Alle hatten sich freigenommen, nicht nur Flox und ich, auch meine Eltern, Flox’ Eltern würden aus Hamburg kommen, sogar seine Schwester aus Amsterdam, meine Freundin Katha, die Annas Patentante war. Ich fühlte mich mit meinen Sorgen dennoch furchtbar allein. «Es wird alles gutgehen», sagten Flox und seine Eltern und seine Schwester am Telefon, sagten Katha und all unsere Freunde, Frank, der nie viel sagte, meine Mutter konnte nichts sagen, weil ich großen Wert darauf legte, in dieser Zeit kaum mit ihr zu sprechen, nicht über die OP , weil ich fürchtete, ich würde anfangen zu weinen, wenn sie anfangen würde zu weinen, und um selbst nicht anfangen zu weinen, würde ich sie anschreien müssen, was viel mit meiner Wut auf das Schicksal und das Leben und Flox, der sich keine Sorgen zu machen schien, während ich mir so viele machte, zu tun hatte und mit ihr eigentlich nichts. Um das zu vermeiden, schwiegen wir darüber hinweg, und dafür war ich ihr dankbar wie selten zuvor.
Mir kam es vor, als beherrschten die Sorgen meinen Kopf. Ich stellte sie mir als eine Armee kleiner Männchen vor, die jeder einen Seemannssack voller Sorgen über der Schulter trugen, in meinem Kopf einmarschiert und nun dort stationiert waren, bis der Befehl käme, sie dürften zurück zu ihren Familien, wo auch immer die Familien der Männchen mit den Sorgensäcken lebten, vielleicht im Sorgenland. Den Befehl konnte ich ihnen nicht erteilen, und man hatte mir erklärt, und ich hatte es im Internet und in medizinischen Fachbüchern, die ich nicht verstand, auf dem Bildschirm und auf Papier, schwarz auf weiß sozusagen, nachgelesen, dass der Befehl nicht kommen würde, sie sagten, ich könne warten und hoffen und beten, und während ich wartete und hoffte und in den besonders verzweifelten Nächten sogar betete, machten es sich die Männchen in meinem Kopf gemütlich.
Ich hatte den Herbst so lange ignoriert, wie ich konnte, nicht bewusst, vielmehr hatte mein Selbstschutzmechanismus ihn ignoriert, nun war er da, wir hatten den 17 . September, ich saß am Küchentisch und versuchte, Informationsbögen zu verstehen, auf denen Fachbegriffe wie Ventrikelseptum, Koronararterien, Mitralklappe, Perfusion und Aorta ascendens vor mir tanzten, und dazwischen immer wieder Risiko und Einwilligung, dann wieder Aorta ascendens, Pulmonalarterie, Palliation, ich verstand nichts und fragte mich, welchen Grund es hatte, dass einer der Bögen grün war, einer rosa und einer weiß, und fragte das auch Flox, der sich gerade ein Käsebrot schmierte.
«Weißt du, warum die Bögen verschiedene Farben haben?»
Er schaute auf. «Nein. Keine Ahnung. Hat vielleicht etwas mit der Krankenhausbürokratie zu tun.» Er wechselte das Thema. «Ich dachte, ich nehme Anna mit, wenn ich meine Eltern vom Flughafen abhole, das macht ihr sicher Spaß, die Flugzeuge zu sehen.»
«Ja, klar. Da freut sie sich bestimmt.»
Seine Eltern würden übermorgen kommen, um noch ein bisschen Zeit mit Anna zu verbringen, bis zur OP .
Flox stellte den Käse in den Kühlschrank und schloss das Fenster, bevor er sich an den Tisch setzte, draußen war es Herbst und kalt. Ich blickte noch einmal auf den grünen Bogen vor mir und sah ein, dass ich ihn nicht verstehen und es mich auch nicht weiterbringen würde, ihn zu verstehen, also nahm ich den Kugelschreiber, unterschrieb und willigte damit ein, dass meinem Kind das Herz aufgeschnitten werden würde, eine lebensgefährliche, aber hoffentlich lebensverlängernde Operation.
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Zehntes Kapitel
Orte, an denen ich Sergej treffen könnte
• unter der Brücke
• lichtes Stück im Wald
• am Fluss (abends?)
• bei mir (tagsüber, wenn auch Nikolaj Petrowitsch schon gegangen ist)
• bei ihm, wenn seine Großmutter nicht da ist
• abends auf dem Spielplatz hinter der Schule
• in der Parkanlage am Schipkowskij Pereulok
• nachts im Pomologichejskij Rassadnik (über den Zaun klettern)
• Universitätsbibliothek (einbrechen)
• Tante Maschas Datscha (Mama fragen, ob sie gerade dort ist)
• unser Treffpunkt
• irgendwo in Zhabkino
Oberziel: Sergej erobern (???)
Unterziel 1
: Sergej zeigen, dass man keine Angst zu haben braucht
Schritt 1 : Kein Kontakt zu Sergej (er)
Schritt 2 : Mit anderen reden, Mädchen
Schritt 3 : Nicht abweisend! Alles in Ordnung, alles wie früher
Schritt 4 ,
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