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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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geben, sich vielleicht sogar kurz umarmen, vielleicht aber auch ein wenig zu lang. Später, wenn er im Vorlesungssaal saß oder auch nicht – nicht weil Sergej tatsächlich an seiner Tür geklingelt hatte, sondern weil er ihn in seinem Kopf besuchte –, wenn er ziellos durch die Straßen streifte, im Theater aushalf, zu zeichnen versuchte, zu Hause oder auf einer Parkbank saß, wenn er mit der elektrischen Eisenbahn ein paar Stationen aus der Stadt herausgefahren war und auf dem lichten Stück im Wald lag, einem seiner Lieblingsplätze, und die Augen schloss, wenn er sich an den Fluss am Wald setzte und Steinchen ins Wasser springen ließ, dann stellte er sich den Nachmittag vor. Sergej und er würden, so die Szene in seinem Kopf, mit der Eisenbahn zusammen zum Wald herausfahren, sich ins Gras setzen und sich eine Zigarette teilen und sich dann nach hinten fallen lassen und in den Himmel schauen, in den strahlenden, blauen Himmel, er würde die Wolken zählen und Sergej erzählen, dass er schon immer Wolken zählte, «Eins, zwei, drei Wolken», hatte er als Vierjähriger schon gezählt, und vielleicht würde Sergej dann lächeln, und vielleicht würde er seine Hand nehmen. Streifen würde er sie auf jeden Fall (und später, stellte er sich vor, würde er über Sergejs Narben streicheln, und er stellte sich vor, dass Sergej ihm endlich erzählt, wie es zu diesen Narben gekommen war. Was Sergej ihm genau über diese Narben erzählt, malte er sich nicht aus, das sollte Sergejs Geschichte sein). Manchmal dachte Grischa nachmittags auch an den Fluss, wie Sergej sich das Hemd aufknöpft und die Hose auszieht und ins Wasser stampft, er stellte sich das vor, obwohl er noch nie mit Sergej schwimmen gewesen war, wie er später Sergej sein Handtuch ausleiht, weil dieser seins vergessen hat oder der Ausflug für ihn überraschend kam. Er mochte die Szene am Fluss, sie dauerte bis in den Abend und manchmal sogar bis in die Nacht, aber er hatte auch Schwierigkeiten mit dem Fluss, dort waren immer so viele Menschen, die er kannte und auch nicht kannte, zu viele jedenfalls, und die Logik der Realität, die seine Gedanken auch im Tagtraum steuerte, ließ nicht zu, dass er sie sich wegdachte.
    Ab dem Nachmittag stellte er sich dann Abende vor oder Abende, die zu Nächten wurden, Spaziergänge und Bier und Wodka, weil Bier und Wodka seine größten Hilfsstützen waren, um der Logik der Realität auf die Sprünge zu helfen. Er dachte an den Apfelbaum im Hof, an den sein Bruder Antonia gedrückt hatte, und an Sergejs Körper, der seinen an sich drückte, an den Fluss, wo man ein Feuer machen könnte, an die Stelle unter der Krasnoluschskij-Brücke, an die er und seine Freunde sich früher, noch zu Schulzeiten, immer gesetzt hatten, um heimlich zu rauchen, er dachte an viele Orte, von denen er eine Liste erstellte. Er dachte an Sergejs Lippen und Sergejs Hände, weiter reichte seine Vorstellungskraft nicht.
    In seinem Kopf näherten sie sich langsam an. Sie teilten sich ein Bier und eine Zigarette, die Flasche ging von Hand zu Hand, und jede Übergabe dauerte ein paar Sekunden länger als nötig, während sie weiter über Politik sprachen, sie sprachen immerzu nur über Politik, es langweilte ihn inzwischen sehr. Einmal wurde die Flasche weitergereicht, aber die Hände blieben aneinander hängen, und er streichelte mit seinem Daumen immer wieder über Sergejs glatte, etwas schweißnasse Hand, auch er war offensichtlich aufgeregt. Das Gesprächsthema ging dann von der Politik zu den Händen über, dafür hatte er sich mehrere mögliche Wege ausgedacht.
    Vielleicht würde er sich trauen zu sagen: «Deine Hand fühlt sich schön an!»
    Vielleicht würde Sergej sich trauen zu sagen: «Frierst du?», denn sie saßen draußen, weil sie das, was sich in seinem Kopf abspielte, nicht drinnen tun konnten, wo andere waren. Und dann würde Sergej sich vielleicht trauen hinzuzufügen: «Rutsch zu mir, dann ist es wärmer!»
    Vielleicht würde einer von ihnen sagen: «Was machen wir denn da?», das war der beste Weg, weil er ihnen die Tür öffnete, darüber zu sprechen und eine Entscheidung zu treffen, zum Beispiel so:
    «Was machen wir da?»
    «Ich bin mir nicht sicher.»
    «Sollten wir das tun?»
    «Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, dass ich es mag. Ich halte deine Hand gern in meiner.»
    «Geht mir genauso. Aber wir dürfen nicht. Es darf nicht sein.»
    Und sie halten sich weiter an den Händen, wobei eine die andere drückt.
    «Willst du

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