Die Listensammlerin
Oberziel: Sergej für sich gewinnen.
Aber weiter als Unterziel 2 , sich interessant machen für Sergej, kam er schon nicht mehr.
Es hätte noch viel Zeit gebraucht, bis die Unterziele erreicht würden, und zum Grübeln sollte er keine Lust mehr haben, weil die Realität ihn zu diesem Zeitpunkt schon eingeholt haben würde, die Realität, gegen die weder Ablenkung noch Trinken noch das Kissen auf dem Kopf half.
Die Realität: Er hatte Sergej nach einigen Tagen, in denen er viel von ihm geträumt, ihn aber nicht gesehen hatte, vor dessen Institut abgefangen. Er lungerte am Eingang herum, und damit das nicht wie Herumlungern wirkte, las er, ohne wirklich zu lesen, und manchmal steckte er das Buch weg und rauchte eine. Sechs Zigaretten kostete ihn das Warten, sechs Zigaretten und drei Listen, die er auf den Inneneinband seines Buchs kritzelte, möglichst so, dass außer ihm keiner die Listen würde entziffern können. Er machte Stichworte, zu Hause würde er die Listen abschreiben. Er zählte die Wolken, die heute zahlreich waren, aber das Zählen lenkte nicht so gut ab wie sonst, beruhigte ihn nicht. Er hatte Sergej aus den Augenwinkeln erhascht, sah Sergej, bevor Sergej ihn sehen konnte. Er saß auf einem Mauervorsprung, ließ seine Beine herunterbaumeln, seine Beine waren irgendwie zu kurz, fand er, obwohl ihn seine Größe ansonsten nicht störte, weil er über solch oberflächliche Dinge selten nachdachte, auch die jetzt schon ausfallenden Haare störten ihn nicht, und blickte, sobald er Sergej bemerkte, wieder ins Buch. Blätterte einmal um. Schaute nicht auf. Wiederholte: dreiundvierzig. Dreiundvierzig Wolken hatte er gezählt. Als Sergej endlich vor ihm stehen blieb, fast einen Meter entfernt, und «Hallo» sagte, schrak Grischa fast zusammen, so angestrengt und konzentriert hatte er ins Buch geguckt, ohne zu lesen, so engagiert hatte er diese eine Seite umgeblättert.
«Oh, hallo!» Als hätte er nicht gewartet, als läse er immer hier, auf diesem Mauervorsprung, während er seine Beine herunterbaumeln ließ. Er klappte das Buch zu, legte es neben sich. Sergej holte sein Zigarettenpäckchen aus der Tasche, das wie neu aussah, obwohl es halb leer war, wie er bemerkte, die Zigarettenpäckchen schienen in Sergejs Taschen nie zu zerknittern. Wie machte er das?
Sergej bot ihm keine an. «Was machst du hier?»
«Wollte sehen, ob du vielleicht Lust hast, an den Fluss zu fahren? Hast du wichtige Vorlesungen heute?» Er ärgerte sich über die letzte Frage, die er nur gestellt hatte, weil die Antwort nicht wie aus der Pistole geschossen kam, und jetzt ärgerte er sich, während Sergej sich die Zigarette anzündete und das Streichholz auf den Boden schmiss, über den Ausweg, den er Sergej geboten hatte. Sergej nahm diesen dankbar an.
«Ja, bald sind ja Prüfungen, und ich war in letzter Zeit oft nicht in der Uni. Ich gehe heute hin. Den ganzen Tag. Wird auch Zeit.»
«Ja, ich habe auch Prüfungen …», hatte er geantwortet und nach ein paar Sekunden hinzugefügt, weil Sergej nicht reagierte, sondern nur paffte: «Hab nur keine Lust hinzugehen heute. Den letzten Sonnenschein, den muss man nutzen.» Es war, als würde neben ihm jemand anderes sitzen, ein anderer Er, und dieser andere Er beobachtete ihn genau und hörte genau zu und lauschte der eigenen Stimme, die plötzlich fremd klang, oder war es der Tonfall? Betteln, fiel ihm ein, und dann seine Schwester, die sprach auch manchmal so, wenn sie was von ihm wollte.
«Nee, ich gehe schon hin. Wird, wie gesagt, langsam Zeit. Muss auch gleich wieder los.»
«Dann geh, mein Fleißiger, geh lernen, lernen, lernen, wie Opa Lenin es uns geheißen hat!», hatte er gesagt und gegrinst, um dem «mein» jegliche Bedeutung zu nehmen, aber Sergej hatte nicht ein bisschen gegrinst.
«Ja, ich gehe!» Sergej hatte seine Zigarette, die er nur zur Hälfte geraucht hatte, am Mauervorsprung ausgedrückt, das nicht zerknitterte Zigarettenpäckchen hervorgeholt und den Rest hineingesteckt.
«Sehen wir uns denn bald mal wieder?», bettelte er.
«Mal sehen. Ich muss viel lernen. Bald sind Prüfungen. Ich habe viel nachzuholen.»
«Ja, verstehe ich. Geht mir ja genauso», wiederholte Grischa, weil ihm nichts Besseres einfiel, er wusste, er würde die Prüfungen nicht machen, das hatte nichts mit Sergej zu tun, und dass ausgerechnet er verzweifelt versuchte, sich etwas Besseres einfallen zu lassen, für Sergej, der gerne ins Nirgendwo starrte und komische Kratzer an den Armen hatte
Weitere Kostenlose Bücher