Die Loge der Nacht
verhältnismäßig lange Reden schien Charles Belier über die Maßen angestrengt zu haben. Das letzte Wort erstickte schon fast in keuchendem Husten, das seinen hageren Leib durchrüttelte.
Tobias wollte aufspringen, um ihm beizustehen, doch Belier bedeutete ihm, zurückzubleiben.
»Es geht gleich wieder«, rasselte der Händler, »wenn du mich einen Augenblick entschuldigen möchtest .«
Er stand mühsam auf und schlurfte schwer schnaufend zur Tür hinaus. Sein Keuchen wurde leiser, als er seinen Gemächern zuging.
Tobias rutschte auf seinem Stuhl hin und her, als glühte ihm das Holz unterm Hintern. Er konnte den Tuchhändler doch nicht allein lassen in seiner Not. Vielleicht konnte er ja doch irgend etwas für ihn tun.
Er folgte ihm hinaus und den Flur hinab, wo gerade eine Tür hinter Belier zufiel. Ein Riegel schabte drinnen übers Holz.
Tobias trat an die Tür und wollte schon klopfen, rief dann aber nur voller Sorge: »Herr? Hört Ihr mich?«
»Geh, Junge«, antwortete Belier, und wieder hustete er, so lang, bis es ihn würgte.
»So öffnet doch«, bat Tobias.
»Weg mit dir!«
Der Händler keuchte und gab Laute von sich, als erbräche er sich. Tobias ging in die Knie und drückte das Auge gegen das Schlüsselloch. Er sah Belier, und er sah, daß der sich in der Tat erbrach. Doch was da im Geifer über die Lippen kam .
Tobias zuckte zurück, als hätte er sich das Auge verbrannt. Hastig schlug er sich die Hand vor den Mund, weil ihm vor Entsetzen ein Schrei entweichen wollte. Das Bild blieb ihm jedoch vor Augen, trotzdem er es nicht mehr ansah.
Das Bild Charles Beliers, der vornüber gebeugt dastand, würgend und rasselnd atmend - - und eine kinderfaustgroße Spinne erbrach!
Wie knöcherne Finger hatten sich erst die Beine des Tiers aus seinem Maul getastet, dann hatten sie sich um seine Lippen gelegt und wie in einem Klimmzug den Rest des häßlichen Leibes nach sich gezogen.
»Herr im Himmel, steh mir bei«, flüsterte Tobias im Zurückweichen. Welches böswillige Spiel wurde hier nur mit ihm getrieben? Holte ihn das Grauen denn immer wieder ein? Hatte er als Bub nicht genug Leid ertragen müssen?
Dieses hier würde er sich nicht antun lassen! Keine Sekunde länger wollte Tobias Stifter im Haus des Tuchhändlers bleiben.
Es interessierte ihn nicht, wie's kam, daß Belier eine Spinne ausspie. Er wollte nicht wissen, wohin der Auer und der Henninger verschwunden waren und was sie mit der Sach' im Apothekershaus zu schaffen hatten.
Er wollte nur noch raus - aus diesem Haus, aus dieser Stadt, und wenn's sein mußte, würde er das Vaterland selbst hinter sich lassen.
Über all diesen Gedanken war Tobias schon ein gutes Stück den Gang hinabgeflohen. Jetzt hörte er, wie hinter ihm ein Riegel über Türholz gezerrt wurde. Belier kam aus seinem Gemach!
Tobias sprang hinter die nächste Ecke, noch bevor die Tür ganz offen war. In der Nähe führte eine Treppe in die obere Etage des Hauses. Leise und flink erklomm er sie, schlüpfte droben in ein Zimmer und öffnete lautlos das Fenster. Rasch schwang er die Beine hinaus und überwand die gut zwei Meter in die Tiefe im Sprung. Kniehohes Strauchwerk fing seinen Sturz ab. Dicht an der Hausmauer entlang drückte sich Tobias zur Ecke vor, von wo aus er die Straße übersehen konnte.
Und wieder fror's ihn bis ins Mark hinein.
Die Straße war nicht leer, wie sie es zu dieser Stunde für gewöhnlich war. Männer kamen aus allen Richtungen herbei und formierten sich zu einem Zug, der in gespenstischer Lautlosigkeit dahinmar-schierte. In Richtung der Heiliggeistkirche, die sich drunten am Marktplatz in die Nacht erhob.
Doch das war nicht das einzige, was Tobias erschreckte.
Charles Belier trat aus seinem Haus und gesellte sich den anderen zu, auf einmal gar nicht mehr so kraftlos wirkend wie all die Zeit, in der Tobias bei ihm gewesen war.
Das Schlimmste jedoch sah der junge Bursche drüben beim Haus des Bäckers Straßmayer.
Wo sie einen Kokon aus der Tür trugen - ganz von der Art, wie er sie schon in der Gmelinschen Schlafstube vorgefunden hatte! Also hatten ihn seine Augen dort vor Tagen nicht genarrt. Alles war so gewesen, wie er's gesehen hatte.
Und es steckten offenbar nicht allein der Auer und der Henninger hinter der Geschichte. Denn keiner von denen, die der Heiliggeistkirche zustrebten, warf auch nur einen Blick auf die seltsame Last, die da drüben zwei Männer mit sich schleiften. Auch ihr Ziel war das Gotteshaus.
Tobias fühlte sich
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