Die Loge
vergeben. Ich muß nachts wieder schlafen können.«
Gabriel erwiderte seinen Blick lange, dann nickte er bedächtig. Der Papst hob die Rechte mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger, brach diese Bewegung jedoch sofort wieder ab. Statt dessen legte er Gabriel beide Hände auf die Schultern und zog ihn an seine Brust.
Monsignore Donati begleitete Gabriel hinaus. Am Bronzeportal übergab er ihm einen Umschlag. »Bevor der Leopard Kardinal Brindisi erschossen hat, hat er es irgendwie geschafft, ins Arbeitszimmer des Papstes vorzudringen. Das hier hat er auf dem Schreibtisch zurückgelassen. Ich dachte, es würde Sie vielleicht interessieren.«
Dann schüttelte er Gabriel die Hand und verschwand wieder im Palast. Gabriel überquerte den verlassenen Petersplatz, als die Glocken der Basilika neun Uhr schlugen. In der Nähe des Annentors wartete eine Limousine des Diensts. Damit würde Gabriel den Nachtzug nach Venedig noch erreichen.
Er riß den Umschlag auf. Die kurze handgeschriebene Mitteilung war eine Kopie. Die beiliegende 9-mm-Kugel war keine:
Die hätte Eure sein können, Euer Heiligkeit.
Gabriel knüllte den Zettel zu einer kleinen Kugel zusammen. Als er einen Augenblick später den Tiber überquerte, warf er sie ins schwarze Wasser. Das Geschoß ließ er in seine Jackentasche gleiten.
39
G RINDELWALD – F ÜNF M ONATE S PÄTER
In diesem Jahr war der Schnee früh gefallen. Ein Novembersturm war nachts über die Gipfel von Mönch, Jungfrau und Eiger hinweggefegt und hatte auf den Skipisten unterhalb der Kleinen Scheidegg einen halben Meter Pulverschnee zurückgelassen. Eric Lange stieß sich vom Sessellift ab – dem letzten, der an diesem Tag verkehrte – und schwang in eleganten Bögen durch die länger werdenden Schatten des Spätnachmittags ins Tal.
Am Ende der Abfahrt verließ er die Piste und verschwand in einem Arvenwäldchen. Die Sonne war hinter den Bergen verschwunden, und das Wäldchen lag in tiefem Schatten. Lange, der den Weg auswendig kannte, fand sich mühelos unter den Bäumen zurecht.
Sein Chalet erschien: unmittelbar am Waldrand mit herrlichem Talblick nach Grindelwald erbaut. Er fuhr bis zum Hintereingang, zog seine Handschuhe aus und gab auf dem Tastenfeld neben der Tür den Sicherheitscode ein.
Er hörte ein Geräusch. Im Neuschnee knirschten Schritte. Als er sich umdrehte, sah er einen Mann auf sich zukommen. Dunkelblauer Anorak, kurzgeschnittenes Haar, graue Schläfen. Sonnenbrille. Lange riß seine Daunenjacke auf und wollte die Stetschkin ziehen. Aber dafür war es zu spät. Der Mann in dem blauen Anorak zielte bereits mit einer Beretta auf Langes Brust und kam jetzt schneller heran.
Der Israeli … Davon war Lange überzeugt. Er kannte ihre Ausbildung zum Töten. Schießend auf die Zielperson zugehen. Weiterschießen, bis die Zielperson tot ist.
Lange umfaßte den Griff seiner Pistole und versuchte sie zu ziehen, als der Israeli abdrückte. Dieser einzige Schuß traf Lange genau ins Herz. Er wurde rückwärts in den Schnee geworfen. Die Stetschkin glitt aus seinen Fingern.
Der Israeli stand über ihm. Lange machte sich auf Schmerzen durch weitere Kugeln gefaßt, aber der Israeli schob nur seine Sonnenbrille auf die Stirn hoch, blieb so stehen und beobachtete Lange neugierig. Seine Augen waren leuchtendgrün. Sie waren das letzte, was Lange in seinem Leben sah.
Er wanderte bei herabsinkender Abenddämmerung hinab ins Tal. Der Wagen wartete in der Nähe eines mit Felsbrocken übersäten Bachbetts auf ihn. Sein Motor sprang an, als der Wanderer zu sehen war. Chiara beugte sich über den rechten Sitz und stieß ihm die Tür auf. Gabriel stieg ein, lehnte sich zurück und schloß die Augen. Für dich, Beni, dachte er. Für dich.
A NMERKUNG DES V ERFASSERS
Die Loge ist ein frei erfundenes Werk. Die in diesem Roman genannten Kardinäle und Kirchenmänner, Spione und Attentäter, Geheimpolizisten und kirchlichen Geheimorden sind ein Produkt der Phantasie des Verfassers oder werden in fiktiven Zusammenhängen erwähnt. Jegliche Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen wäre rein zufällig. Das Herz-Jesu-Kloster in Brenzone existiert nicht. Martin Luther vom Reichsministerium des Auswärtigen hat an der Wannsee-Konferenz teilgenommen, aber die ihm in Die Loge zugeschriebenen Aktivitäten sind reine Erfindung. Papst Pius XII. war von 1939 bis zu seinem Tod im Jahr 1958 im Amt. Sein öffentliches Schweigen zur Ausrottung der europäischen Juden – obwohl ihn
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