Die Logik des Verruecktseins
Wahrscheinlich seien sie nachtaktiv und kämen dann aus der Matratze heraus. Gesehen hat er sie noch nie. Auch war er selbst nie von ihnen befallen gewesen, hat sie nie auf der Haut gespürt. Er hat einige kleine Glasbehälter dabei, in denen er seine »Beweise« aufbewahrt. Bei näherem Hinsehen sind es sandkorngroße Objekte, die er für die Fäkalien der Tiere hält. Winzig kleine Wollmäuse seien Fellreste oder Organismusteile seiner Widersacher. Medikamente lehnt er zunächst ab. Die Untersuchung der »Beweise« im rechtsmedizinischen Institut verläuft negativ, die wahnhafte Gewissheit über die Existenz der Tiere bleibt natürlich unbeeinträchtigt. In der Klinik ist er von seinem Erleben frei und schläft jede Nacht gut. Bei den Belastungserprobungen in den häuslichen Bereich ist er sofort wieder mit den Tieren beschäftigt und schläft nachts deshalb kaum. Nach einiger Zeit akzeptiert er eine neuroleptische Medikation und ist erstaunlich schnell von seinen Ängsten distanziert. Auch bei den Belastungserprobungen in die eigene Wohnung fühlt er sich nicht mehr geängstigt. Eine inhaltliche Distanzierung gelingt allerdings nicht mehr. Die Tiere seien wohl ausgezogen, deshalb habe er jetzt Ruhe.
Bei fehlender Krankheitseinsicht war aber eine ausreichende Behandlungseinsicht erreicht worden und der Patient war anderen Themen gegenüber zugänglich geworden. Im Vordergrund standen dabei die begleitenden körperlichen Einschränkungen des Älterwerdens. Der allein lebende Patient hatte immer großen Wert auf seine körperliche Verfassung gelegt, hatte immer Sport betrieben und sich mit Gleichaltrigen in der Leistungsfähigkeit gemessen. Jünger zu wirken war ihm sehr wichtig gewesen, mit Anfang 70 waren aber altersbedingte Einschränkungen nicht mehr zu leugnen. Die Angst vor zunehmenden altersbedingten Einschränkungen der eigenen Leistungsfähigkeit und die damit einhergehende Beraubung von narzisstischen Stabilisierungspotentialen riefen eine permanent präsente und zunehmende Untergrundangst herbei, die sich schließlich in der paranoiden Präsenz der zweiten Außenraumbühne entlud. Altersbedingte Einschränkungen, wie nachlassende körperliche Belastbarkeit, raschere Ermüdbarkeit und geschwollene Augen am Morgen, wurden den Widersachern angeschuldet: auch hier, wie bei den Phobiebeispielen, eine Entlastung von den eigenen, in einem selbst lauernden Gefahren durch Verschiebung der Ursachen auf die Außenbühne. Aber auch hier ein vergebliches Bemühen. Durch Matratzenwechsel und durch Wohnungsumzug war das eigentliche bedrohliche Alterungsproblem nicht abzuschütteln gewesen.
In den stützend geführten Einzelgesprächen und vor allem in der Gruppentherapie mit Gleichaltrigen konnte der Patient zumindest in Ansätzen mit dem Thema Älterwerden und seinen Befürchtungen in Tuchfühlung treten. Die neuroleptische Medikation blieb unerlässlich, Reduktionsversuche ließen die alten Sorgengedanken und den Fahndungseifer sofort wieder anspringen. Nur durch die in ihrer Wirkung Angst reduzierende Medikation konnte eine ausreichende Stabilisierung des Binnenvolumens erfolgen, sodass sich die vermeintliche Gefahrenlage auflöste.
Wir finden das gleiche Bühnenthema vor wie bei der real behilflichen Angst vor kleinen Tieren und der Kleintierphobie. Wieder geht es um in Schwärmen auftretende lebende Objekte, die gefährlich sind, sich in unmittelbarer Reichweite und knapp dahinter befinden
und potentiell schädigend sind. Den Organismus selbst haben sie allerdings noch nicht erreicht. Die Raumbühne wird fast korrekt identifiziert. Lediglich kleine Objekte werden in illusionärer Verkennung ihres eigentlichen Charakters umidentifiziert und den vermuteten Kleintieren zugeordnet. Die Bühne ist zwar weitgehend, bis auf die Hinweisspuren, leer von den Tierobjekten, dennoch sind sie mit absoluter Gewissheit anwesend, sie sind eben nur verborgen. Ihre Anwesenheit ist aber emotional und körperlich spürbar.
Der Patient ist so überzeugt von der Existenz seiner Widersacher, dass er für argumentative Erläuterungen oder negative labormedizinische Untersuchungen seiner »Beweise« nicht mehr zugänglich ist. Er ist wahngewiss. Am besten spricht man von einer Kleintierparanoia, einer monothematischen Wahnerkrankung, wobei diese Krankheit eigentlich nur als Alterspsychose auftritt. Sie ist ein typisches Wahnthema von Menschen im höheren Lebensalter, junge Menschen sind nie von dieser Thematik betroffen. Noch stärker
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