Die Logik des Verruecktseins
als beim Phobiker ist die betroffene Person durch die Bühnenpräsenz in Mitleidenschaft gezogen, sie ist in höheren kognitiven Bewertungsfunktionen beeinträchtigt und in stärkerer emotionaler Beteiligung, die breitere Schatten auf das Leben wirft. Die Verzweiflung ist noch größer, da der abgewehrte Lebensangstthemenkomplex noch gewichtiger ist. Der Phobiker weiß um die Unsinnigkeit seiner Phobie, kann aber nicht anders. Der Wahnkranke hat diese Fähigkeit zum Überstieg und zur Distanzierung von sich selbst verloren, er kann nicht anders und weiß es auch nicht besser.
Im nächsten horizontalen Bühneneskalationsschritt wird das Bühnenthema selbst mit absoluter Realitätsgewissheit aus der Person heraus in die Welt projiziert. Wir haben dieses Phänomen bereits als Bühnenpräsenz am Beispiel des Alkoholentzugsdelirs kennengelernt. Dort werden z.B. die berühmten weißen Mäuse gesehen oder auch von der Decke herabfallende Schlangen, die sich dann in großer Zahl um das Bett herumwinden. Die Patienten sind von panischer Angst ergriffen und finden keine Fluchtmöglichkeit. Hinter der Kleintierwelt existiert keine andere Welt mehr, sie ist in eine Dunkelheit aus
Desinteresse getaucht, da die Tierwelt in unmittelbarer Nähe die ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Was sich noch näher befindet, z.B. das Bett, in dem der Patient liegt, wird zutreffend erkannt, aber die eigentliche Krankenhaussituation, in der sich der Patient befindet, wird fehlidentifiziert. Man wähnt sich zu Hause oder in einem Hotel. Die Identifizierung der Welt ist auf einen Bruchteil reduziert, die Projektion des Bühnenthemas bei hundert Prozent angekommen.
Strukturregeln der horizontalen Angsteskalation
Fassen wir unsere gewonnenen Erkenntnisse der horizontalen Erkundigung der zweiten Außenraumbühne und ihrer belebten Objekte zusammen:
Bei voller Funktionstüchtigkeit nimmt das Gehirn die Welt mit der Gefahrensituation real vorkommender, lebendiger Objekte bei deren In-Erscheinung-Treten korrekt wahr. Die Gefahr wird rasch erkannt und gebannt.
Besteht eine leicht verminderte Funktionstüchtigkeit, genügt die Ähnlichkeit gegenüber dem potentiell realen Gefahrenobjekt, um den gleichen Bühnenalarm auszulösen mit seiner entsprechenden Angst und dem dazugehörigen Flucht-/Vermeidungsverhalten. Das real vorhandene Objekt wird mit Attributen belegt, die ihm nicht zukommen, vor dessen Anwesenheit sich die Person aber evolutionär erwachsen und fixiert fürchtet. Es erfolgt eine eingeschränkte Identifikation des Objektes und die Ergänzung um einen zuaddierten Projektionsanteil. Die »Realitätssumme« des Objektes erscheint dem Gehirn dann gefährlich genug, um Bühnenalarm und die beigeordnete Angst auszulösen. Der Patient ist neurotisch fixiert.
Bei weiter eingeschränkter Funktionstüchtigkeit erfolgt die emotionale Angstgewissheit, dass das gefährliche Objekt anwesend ist, obgleich es nicht gesehen werden kann. Überall finden sich aber Indizienbeweise für sein Vorhandensein. Unerlässlich wird danach gesucht. Die Gewissheit erreicht wahnhaften Charakter, da eine argumentative
Überzeugung vom Gegenteil nicht mehr gelingt. Der Patient ist paranoid.
Ist die Identifikation des Bühnengefahrenobjektes noch weiter reduziert, findet als Nächstes bei weggefallener Realitätsidentifizierung die hundertprozentige Projektion des Bühnengefahrenobjektes statt. Der Patient halluziniert seine evolutionär erwachsenen, Angst auslösenden und zu vermeidenden Objekte.
Immer geht es um die gleiche Bühne. Das Objekt befindet sich in einer bestimmten Entfernung von der Person, unmittelbar dicht dran, aber mit den Händen nicht erreichbar. Immer geht es um das gleiche Bühnengefahrenobjekt. Mit zunehmender Krankheitsschwere wird die Realität immer eingeschränkter wahrgenommen und das Bühnengefahrenobjekt wird schließlich entladen und läuft als Halluzinationsprojektion auf der Bühne herum.
Wir haben es also einmal mit einer korrekten, zielgerichteten und sinnvollen Gefahrenanalyse und Gefahrenabwehr zu tun und dreimal mit psychopathologischen Pseudogefahrenmomenten, die aus der schrittweisen Einschränkung der Funktionstüchtigkeit des Gesamtsystems resultieren.
Da ein komplexes System wie das menschliche Gehirn niemals perfekt sein kann - der Evolution geht es ja nicht um Perfektion, sondern um Hinlänglichkeit -, sind aufgrund unserer Systemstruktur psychische, dann psychopathologisch genannte Entgleisungen unausweichlich.
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