Die Logik des Verruecktseins

ausgebrochen, so verliert die Persönlichkeit ihre Einheit; bald repräsentiert der, bald jener psychische Komplex die Person: die gegenseitige Beeinflussung der verschiedenen Komplexe und Strebungen ist eine ungenügende oder geradezu fehlende; die psychischen Komplexe fließen nicht mehr wie beim Gesunden zu einem Konglomerat von Strebungen mit einheitlicher Resultante (sic) zusammen, sondern ein Komplex beherrscht zeitweilig die Persönlichkeit, während dessen andere Vorstellungs- oder Strebungsgruppen ›abgespalten‹ und ganz oder teilweise unwirksam sind.« 85
    Weitsichtig sprach er auch von der »Gruppe der Schizophrenien« und unterstrich damit die Heterogenität des Krankheitsbildes. Zu den Merkwürdigkeiten von Bleulers Buch gehört, dass sich der Autor mit seinem Krankheitskonstrukt, auf das sich die biologische Psychiatrie im weiteren Verlauf der nächsten fast hundert Jahre beziehen wird, auf einen Mann und sein Werk beruft, welchem die biologische Psychiatrie vor allem in Deutschland im Geschichtsverlauf feindselig diametral gegenübersteht. Im Vorwort heißt es: »Ein wichtiger Teil des Versuches, die Pathologie [der Dementia praecox] weiter auszubauen, ist nichts als die Anwendung der Ideen Freuds auf die Dementia praecox. Ich denke, jedem Leser wird ohne weiteres klar sein, wie viel wir diesem Autor schulden, auch wenn ich dessen Namen nicht überall ausführe.« 86 Zumindest die deutsche Psychiatrie verlor vollkommen das Interesse an innerpsychischen Vorgängen der Patienten, wie es in einer freudschen Denk- und Arbeitsweise selbstverständlich geworden wäre, und zog sich immer weiter von der Subjektivität der Patienten in eine scheinbar viel bedeutsamere Objektivität des ärztlichen Beobachters zurück. Dies erreichte seinen vorläufigen, klinisch relevanten Diagnosehöhepunkt mit den Arbeiten Kurt Schneiders, der 1955 sein berühmtes Lehrbuch Die klinische Psychopathologie vorlegte. Mit seiner Unterteilung psychopathologisch schizophrener Symptome in Symptome ersten und zweiten Ranges legte er den Grundstein operationalisierbarer Diagnosemerkmale und -kriterien, auf dem schließlich in den 1970er-Jahren die ICD 10 erbaut wurde. Wie sich die Schizophrenie zeigt , ist damit
sehr gut beschrieben, was sie hingegen »ist«, wird nicht entschlüsselt. Dem wollen wir uns jetzt zuwenden.

Die menschliche Schizophrenie-Potenz: Wenn das Ich am Ereignis zerfällt
    In den vergangenen Kapiteln haben wir die affektiven Erkrankungen betrachtet und gesehen, dass sie jeweils Folge einer bestimmten Bühnenimplosion sind, deren Ergebnis der Verlust einer bestimmten, Halt gebenden Seinsstruktur ist. Nach und nach brechen die Haltegriffe weg, mit deren Hilfe der Gesunde unbekümmert sein Leben fristet und dabei ihre Stabilität naiv überschätzt. Auch die Schizophrenie entfaltet sich auf den bekannten Seins-Bühnen, die der Mensch um sich herum entwirft. Sie implodieren bei dieser Erkrankung aber nicht, sondern explodieren. Psychotisch werden heißt, Fusionskonfusionen des Seins auf einer oder mehreren Seins-Bühnen ertragen müssen, obwohl dies eigentlich unerträglich ist. Was psychotisch erkrankte Menschen auf sich nehmen, gleicht einem Höllentrip zum absoluten Nullpunkt der Sinnhierarchien. Selbst dem, der wieder in die Halt gebende Sinnhierarchie zurückkehrt, hängt oft lebenslänglich das Kainsmal an: »Ich weiß, dass ich mir etwas vormache.« Wer das erlebt hat, der kann nicht mehr zur unbekümmerten Geschäftigkeit der Alltagsmenschen zurückkehren. Bei keiner psychiatrischen Erkrankung ist die Suizidrate im Längsverlauf so hoch wie bei der Schizophrenie. Am gefährdetsten sind die Betroffenen nicht im akuten Schub, sondern in der Phase der Besserung, wenn die produktiv psychotischen Symptome rückläufig oder bereits ganz verschwunden sind und der Lebensfaden eigentlich wieder aufgenommen werden könnte. Die oft diagnostizierte postpsychotische Depression wird vor allem gespeist aus der Frage: »Und danach?« Wie kann man als aus dem Psychosevietnam zurückgekehrter Veteran an der Heimatfront unbekümmert weitermachen? Man hat doch gesehen, dass alles, selbst man selbst, nur eine Fata Morgana ist, eine Luftspiegelung, flüchtig wie der Schatten eines Hauchs.

    Wie in den vorangegangenen Kapiteln wollen wir uns dem Themenfeld Schizophrenie annähern, indem wir das psychotische Feuer jeweilig thematisch gebunden an die verschiedenen Außenbühnen und die Innenraumbühne betrachten. Dass es dabei um