Die Logik des Verruecktseins
aber nicht die gesamte Gattung, er wird schicksalhaft einzelnen Mitgliedern aufgebürdet. Für die Last, die diese stellvertretend für uns alle tragen, werden sie weiterhin leider viel zu oft von den glücklich Davongekommenen diskriminiert und stigmatisiert.
Wem auch diese Autosimulation einer vormals gelungenen Weltillusion und Weltinterpretation zerfällt, der erreicht dann die nächste, die dramatischste Stufe menschlicher Psychopathologie. Auf ihr zerfallen die Bühnen und auch ihr Hauptakteur, das Ich. Wem das widerfährt, der muss verstört zusehen, wie er sich selbst auflöst. Wir beforschen somit im letzten Kapitel das Fundament des Ichs. Der Fachbegriff der Fundamentauflösung lautet »Schizophrenie«.
22. Krisenzeit Schizophrenie
Fusionen
Die Schizophrenie gilt als das große Theorieproblem der Psychiatrie. Was »ist« sie eigentlich? Was drückt sich in ihr aus? Was sind ihre Entstehungswurzeln? Was läuft, wenn sie auftritt, im Gehirn »schief« und in was hinein ist das Gehirn dann »verrückt«? Keine andere Erkrankung bedarf einer solchen Intensität an geistig theoretischer Betrachtung wie die Schizophrenie, will man sich ihr mit Erkenntnisaugen nähern. Bei keiner Erkrankung ist der Behandler mehr gefragt, sich in der Begegnung mit seinem Patienten auf unheimliches Terrain zu begeben und sich auf einen existentiellen Selbsterkenntnistrip zu wagen, wenn er sich darauf einlässt, im vorsprachlichen Sinne »verstehen« zu wollen. Dieses Verstehen, abstrakt theoretisch wie emotional, kann immer nur in Annäherung geschehen. Der Mensch kann sich selbst nie ganz mit den Begriffswerkzeugen erfassen, die ihm selbst zur Verfügung stehen, auch nicht, wenn er sie mit Hightech erweitert.
Blicken wir in einen Spiegel, sehen wir nicht die Rückseite unseres Daseins, wir sehen nur das Offensichtliche. Psychische Erkrankungen, dies ist ein Hauptthema unseres Buches gewesen, erlauben hingegen Einblicke auf die Rückseite. Da die Schizophrenie die schwerste aller psychiatrischen Erkrankungen ist, erlaubt sie auch den größten Einblick und den unheimlichsten. Wir werden durch sie unmittelbar gewahr, wie wir »funktionieren«, und sie sagt uns auch, wie sensibel stabil-labil-stabil unsere anthropologische Matrix aufgebaut ist.
Die Entwicklung des Schizophreniebegriffs im medizinhistorischen Verlauf
Wie alle psychiatrischen Krankheitsbilder ist auch die Schizophrenie nur ein Konstrukt. Allerdings ein sehr brauchbares. Dennoch ist sie in ihrer Begriffsbildung und in ihrem klinischen Inhalt das Ergebnis eines medizinhistorischen Prozesses. Dieser sei kurz nacherzählt. 1898 fasste Kraepelin verschiedene unsystematisch nebeneinanderstehende psychiatrische Krankheitsbilder in zwei Gruppen zusammen. Die eine war das »manisch-depressive Irresein«. Diese zeichnet sich als ihr Leitsymptom durch das Vorliegen von affektiven Störungen aus und wird heute als die bipolaren Erkrankungen bezeichnet, die wir schon in den vergangenen Kapiteln untersucht haben. Kraepelin, der als Erster wissenschaftliche Langzeituntersuchungen an psychiatrischen Patienten durchführte, hatte beobachtet, dass bestimmte, vor allem durch depressive oder manische Symptome sich auszeichnende Erkrankungen gut rückbildungsfähig waren, häufig eine günstige Entwicklung nahmen und eine Gesundung stattfinden konnte. Die andere große, von ihm klassifizierte Krankheitsgruppe nannte er die »Dementia praecox«. Diese verlief häufig klinisch stiller, war langsam fortschreitend und sollte eine schlechtere Prognose aufweisen und schließlich in einer »Verblödung« bzw. Demenz münden. Leitsymptome waren hier eher psychotische Symptome wie Stimmenhören oder Wahnvorstellungen. 1911 erfuhr die Dementia praecox dann eine grundlegende Theoriemodifikation durch die Arbeiten von Egon Bleuler. 84 Dieser erfand den Begriff der Schizophrenie, da er nicht an eine in eine Demenz mündende Intelligenzminderung der Patienten im Längsverlauf glaubte. Er unterstrich auch nicht die klinisch offensichtlichen Produktivsymptome wie Stimmenhören oder Verfolgungswahn. Seiner Ansicht nach stand hinter den klinisch gut diagnostizierbaren Symptomen eine grundsätzliche Störung, die die Produktivsymptome meistens, aber nicht zwingend hervorruft. Vielmehr erfand er einen Begriff, der deutlich machen sollte, dass die hier einzuordnenden Krankheitsbilder durch eine Spaltung verschiedener psychischer Funktionen hervorgerufen werden:
»… ist die Krankheit einmal
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