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Die Logik des Verruecktseins

Titel: Die Logik des Verruecktseins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Preiter
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psychiatrische Krankheitszustand sollte plötzlich umschlagen können in ein verzweifeltes Sich-mit-aller-Kraft-zur-Wehr-Setzen, ohne Rücksicht auf Verluste, ein schonungsloses Wüten, ein letztes Alle-Mittel-an-die-taphephobische-Front-Werfen, gegen die Vernichtungsübermacht, nur um doch vielleicht noch herauszukommen und sollte man selbst durch den entwickelten Kraftverschleiß verglühen.

Der Extremzustand: Katatone Schizophrenie
    Die schwerwiegendste und mitunter trotz intensivmedizinischer Behandlung tödlich endende psychiatrische Erkrankung ist die katatone Schizophrenie. 10 Sie ist in der Psychopharmakologieära seit den 70er-Jahren durch die beruhigende und angstlösende Wirkung der Neuroleptika und Benzodiazepine extrem selten geworden. Früher galt sie als äußerst gefährliches Krankheitsbild, da die Patienten im psychomotorischen Erregungszustand sich selbst oder andere lebensbedrohlich gefährden konnten. Der katatone Stupor mündete trotz diverser Therapieversuche nicht selten in einem tödlichen Multiorganversagen. Auch heute noch ist der katatone Stupor eine Indikation für die verzweifeltste und unerbittlichste aller Behandlungsinterventionen in der Psychiatrie: die Elektrokrampftherapie.
    Die Patienten liegen da, im Stupor regungslos und stumm, mitunter mit offenen Augen und merklich hellwach. Es wird kein fester Punkt fixiert, dargereichte Dinge werden nicht neugierig mit den Augen abgetastet. Versucht man Blickkontakt aufzunehmen, weicht der Blick langsam gleitend weg. Auf Ansprache wird nicht merklich reagiert. Die Patienten können weder aus eigenem Antrieb essen noch trinken. Jeglicher Versuch, etwas anzureichen, wird negativistisch zurückweichend verweigert. Auf Berührung oder Ansprache erfolgt keine Reaktion. Außer dem Luftaustausch bei der Atmung wird jedes aktive Hin und Her mit dem Außen unterlassen. Bewegt man die Patienten passiv, spürt man einen wächsernen Widerstand der Muskulatur, als sei der Patient eingefroren (die sogenannte Flexibilitas cerea ). Entweder fällt eine passiv bewegte Extremität dann schlaff zurück (passiver Stupor) oder sie verbleibt in einer ihr gegebenen Position und möge sie noch so unbequem sein (Katalepsie).
    Das klinische Bild kann auch beherrscht sein vom Gegenteil dieser unheimlichen Ruhe. Plötzlich auftretende Erregungsstürme, in denen der Patient sich selbst und andere massiv körperlich schädigt, beherrschen dann die Szene. Ein wütendes gegen die Umgebungssituation Anstürmen, welches fast unmenschlich erscheinende Kräfte mobilisiert.

    Wenn die Patienten psychopathologisch im Laufe der Behandlung gebessert sind und sie dann Auskunft über ihre Erlebnisse während dieser Zeit geben können, berichten sie von ungeheuerer Vernichtungsangst und einem traumähnlichen irrealen Erleben der Außenwelt. Ein Patient schilderte mir einmal, es sei ihm während des Stupors vorgekommen, als sehe ihn ein riesiges Etwas ohne Augen an, das ihn vernichten wolle. Die halluzinierten Stimmen sind akustische Halluzinationen, deren semantische Bedeutung nicht verstanden wird, die vielmehr nur wie vokale Drohgebärden erscheinen. Die Nahrungsaufnahme findet nicht mehr statt, da der eigene Körper nicht wie ein gänzlich zu einem selbst gehöriges Meinsein erlebt wird, sondern wie ein Etwas, das eine Ahnung von Meinsein ausdrückt. Ein Bekümmernmüssen um dieses angedeutete Meinsein ist auf dieser Stufe nicht erforderlich. Ähnlich wie ein Embryo, dem man im Uterus eine Trinkflasche hinhielte, damit nichts anzufangen wüsste, da seine Ernährung via Nabelschnur noch ganz dem Totalergänzer überlassen wird, muss der Mensch im Zustand des Stupors keine, oder besser gesagt, wieder keine Nahrung mehr aufnehmen.
    Die Parallelen zwischen der uterinen Situation und dem Erleben der Patienten sowie ihr Verhalten während der Katatonie sind offensichtlich. Beide befinden sich auf dem ursprünglichsten Niveau menschlicher Konfliktlagen sowie menschlicher Erlebnisweisen und Verhaltensoptionen. Eine bestimmte Seinstruktur des Menschen korrespondiert dabei mit einer bestimmten Raumstruktur. Dieser Raum hat bezogen auf den Fötus oder den kataton erkrankten Patienten eine ultrakurze Distanz, er ist unmittelbar dicht da. Hinter ihm gibt es noch nichts, er ist noch kein Vorbote anderer Horizonte, er ist unklares und diffuses Gegenüber und nicht mehr und nicht weniger. Entweder lähmt seine bedrohliche Übermacht total und es herrscht absolute aktive Bewegungsunfähigkeit,

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