Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Logik des Verruecktseins

Titel: Die Logik des Verruecktseins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Preiter
Vom Netzwerk:
wenn er Gefahr läuft, vom heranfahrenden Zug überrollt zu werden. Dann verschwindet die deutlich geringere Gefahr des Raubtierangriffes aus dem Wahrnehmungshorizont des »Schienenbeißers« und alles Erleben und Handeln ist eingeengt auf die viel wahrscheinlichere und gegenwärtigere Gefahr, gleich überrollt zu werden. Deshalb benötigen »Schienenbeißer« eine gut funktionierende Alarmierungsbereitschaft, welche die möglichen Alarmierungsgründe staffelt und wertet. Außerdem muss es auch möglich sein, bei gelungener Bewältigung der Gefahr schließlich Entwarnung zu geben, damit man sich wieder der Kunst des Schienenbeißens widmen kann. Komplexe Organismen müssen sich zwar laufend in Alarmbereitschaft befinden, dürfen aber nicht ständig alarmiert sein, da sie sonst zu gar nichts mehr kämen und ständig auf der Flucht wären.
    Hier begegnen wir wieder dem dynamischen Binnenvolumen. Es ist auch unser Gefahrenalarmierungssystem. Es ist Teil eines evolutionär im Gehirn hinterlegten Alarmierungssystems, ohne das wir evolutionär gar nicht so weit gekommen wären und das wir auch heute, jeder von uns, tagtäglich einsetzen und nutzen. Das dynamische Binnenvolumen besitzt verschiedene gestufte Größen und wird in Gang gesetzt, wenn im Außen eine Gefahr erkannt wird. Vermittler zwischen dem Außen und der Entscheidung, auf welches Volumen herunterreguliert wird, ist die ausgelöste Angst. Je dichter und unmittelbarer die Gefahr, desto größer die Angst. Bleiben Sie im Fahrstuhl stecken, ist das furchtbar, werden Sie dann im Fahrstuhl noch von jemandem mit einem Messer bedroht, ist die Fahrstuhlgefahr plötzlich »gebannt« und uninteressant, da eine neue, viel dringlichere Gefahr die Fahrstuhlgefahr überblendet. Unsere Art wird dabei allerdings im Alltag nicht mehr von Raubtiergefahren bedroht. Unsere Art ist vor allem empfänglich für Gefahren, die aus dem sozialen Miteinander
gespeist werden. Unsere natürliche Umgebungssituation ist der andere, auf diesen richten wir vor allem unsere Aufmerksamkeit und von diesem gehen Signale aus, für die wir besondere Empfindlichkeiten besitzen und die unser dynamisches Binnenvolumen aktivieren. Das werden wir noch genauer untersuchen.
Problembewältigung durch fantasierte Bedrohung
    Die oben erwähnte Staffelung der Alarmierungsgründe und der Ausschluss fernerer Gefahrenwahrnehmungen bei dichteren und somit vermeintlich dringlicheren Gefahrenhorizonten ist bei der Entwicklung ganz bestimmter Psychopathologien von besonderer Bedeutung, auf die wir noch kurz und etwas vorgreifend eingehen wollen. Es gibt Menschen, die in eigentümlicher Weise mit ihrem Körper überbeschäftigt sind. Ständig sind sie in Sorge, krank zu sein, betreiben einen Arztbesuch nach dem anderen und erhalten dort immer wieder die eigentlich doch entlastende Nachricht, gesund zu sein. Anstatt beruhigt sich wieder anderen Dingen zuzuwenden, bleiben sie besorgt, lauschen in sich hinein und interpretieren die kleinsten Auffälligkeiten als Hinweise für schwere Erkrankungen wie ein Krebsleiden. Andere leiden unter starken Schmerzen in einer bestimmten Körperregion, für die trotz aufwendiger Untersuchung keine medizinischen Begründungen gefunden werden können. Wieder andere fühlen sich in eigentümlicher Art unwohl in ihrem Körper, sie fühlen sich geschwächt und antriebslos, als stehe ihnen der eigene Leib nicht wirklich zur Verfügung. Häufig findet sich ein Mischbild der besagten Sorgenthemen.
    Diagnostisch spricht man von hypochondrischen Störungen, Somatisierungsstörungen und somatisierten Depressionen. Ihnen allen ist gemeinsam, dass über ein bestimmtes, körperliches Sorgenthema nicht mehr hinausgeblickt werden kann. Die Patienten sind fast nur noch mit sich und der vermeintlich existenten, aber noch nicht medizinisch gefundenen Gefahr in ihnen beschäftigt. Sie zeigen keine Einsicht in andere Sorgenfelder, beispielsweise Partnerschaftskonflikte
oder Arbeitsplatzprobleme und liegen diese für andere noch so deutlich auf der Hand. Ganz offensichtlich haben sie Schwierigkeiten, sich auf bestimmte Gefahrenthemen im Außen einzulassen, und »verschieben« ihre Angst auf ein dichteres, anscheinend dringlicheres Sorgenfeld, nämlich auf den eigenen Körper. Diese Patienten sind somit wie jemand, der im Fahrstuhl eingeschlossen ist, diese unerträgliche Angst aber »verdrängen« kann, indem er eine Messerattacke »fantasiert«, die gar nicht existent ist. Die erwähnte Staffelung der

Weitere Kostenlose Bücher