Die Logik des Verruecktseins
auf ihre Möglichkeit lauern. 23
Mit allen diesen Widrigkeiten wird der Organismus am besten fertig und erreicht das Ziel der Reproduktion und Mitreise im Zeitzug, der zufällig Antworten auf relevante Herausforderungen der jeweiligen Bahnsteigsituationsnische bereithält. Organismen haben dabei bestimmte Umweltbezüge, in die sie hineinwirken und von denen sie beeinflusst werden. Der »Auf-die-Bahn-Kletterer« muss Hände mit Saugnäpfen evolviert haben, damit er bei hohen Geschwindigkeiten und schnellen Kurvenfahrten nicht vom Dach der Bahn heruntergeweht wird. Seine Umweltrelation ist eine andere als die des »Schienenbeißers«, der große Zähne und starke Kaumuskeln benötigt, dabei aber von kleiner Statur sein muss, damit er sich unter der Bahn ducken kann, falls diese zu früh in den Bahnhof einfährt. Eine wieder andere Umweltrelation besitzt der »Schummel-Fahrkartenkontrolleur«. Er muss in der Lage sein, mit anderen zu kommunizieren, und muss auf sie reagieren, damit er sie um vermeintlich zu zahlende Nachschläge betrügen kann. Seine Umweltrelation besteht nicht überwiegend aus physischer Natur, sondern aus psychischer. 24 Die normalen Bahnreisenden entwickeln im Lauf der Evolution wahrscheinlich eine große und kräftige Statur, mit deren Hilfe sie andere Fahrgäste von den Eingangstüren der eingefahrenen S-Bahn wegdrängeln können.
Da sich Arten aber im Verlauf der Evolution verändern, verändern sich auch ihre Umweltbezüge. Und damit auch die Gefahrenhorizonte, auf die sie dann durch den Prozess der Evolution immer stimmiger vorbereitet werden. Wird ein Organismus im Verlauf der Evolution komplexer, weitet sich parallel dazu sein Weltverständnishorizont und somit auch sein Gefahrenhorizont. Organismen besetzen zwar unterschiedliche ökologische Nischen (oder schaffen sie sich, je nachdem, wie man es sehen will), bewährte, evolutionär gewachsene und in der Struktur des Nervensystems »hinterlegte« Gefahrenlösungen bleiben aber beibehalten und werden in die neue Organismusstruktur integriert. Warum ist das in unserem Zusammenhang wichtig? Weil
die im Menschen hinterlegten Alarmbereitschaften und Gefahrenlösungen über Jahrmillionen gewachsen sind und uns heute noch prägen - sowohl bei den Bewältigungsversuchen von Alltagsproblemen wie auch in unseren psychopathologischen Krisenzeiten.
Unser Gefahrenalarmierungssystem
Nehmen wir an, aus einem normal angepassten »Bahnsteigfahrer« habe sich durch evolutionäre Prozesse ein »Schienenbeißer« evolviert. Natürlich hat sich sein Körperbau verändert, weshalb er Merkmale verloren hat, die dem »Bahnsteigfahrer« genutzt haben. Der »Schienenbeißer« ist nicht mehr groß und schwerfällig, sondern klein, flink und wendig. »Schienenbeißer« und »Bahnsteigfahrer« besitzen aber eine Gemeinsamkeit. Beide sind der im Hintergrund permanent lauernden Gefahr durch hungrige Raubtiere ausgesetzt. Trotz aller Anpassung macht es deshalb für den »Schienenbeißer« keinen Sinn, seine Raubtier-Erkennungskompetenz abzulegen. Sie wird im evolutionären Verwandlungsprozess beibehalten und liegt für den Bedarfsfall »standby« als Option in ihm bereit. Nähern sich Raubtiere, läuft er davon, genau wie der »Bahnsteigfahrer«. Beide tragen aufgrund einer gemeinsamen evolutionären Wurzel die gleiche Alarmierungsbereitschaft in sich.
Dies hindert den »Schienenbeißer« nicht daran, sich über den Weg der Evolution auch an ganz neue Gefahrenhorizonte seiner speziellen Schienentrassenumgebung anzupassen. Z.B. frühzeitig heranfahrende Züge als solche auszumachen und ihnen geschickt ausweichen zu können.
Die Bearbeitung des einen Gefahrenhorizontes verstellt dabei allerdings die Bearbeitung des anderen Gefahrenhorizontes. Die »Schienenbeißer« können nicht auf ein womöglich zum Sprung bereites Raubtier achten und gleichzeitig ihre Aufmerksamkeit auf die heranrollenden Zugräder richten. Sie müssen deshalb in der Lage sein, die Gefahren im Außen zu bewerten und zu gewichten. Der heranrollende Zug mit seinen gefährlichen Rädern ist eine dringlichere
Gefahr als das Raubtier, das sich »nur« in großer Entfernung in Sichtweite befindet. Je näher die Gefahr ist, desto dringlicher ist sie also und desto vorrangiger muss sie »bearbeitet« werden. Eine einsetzende Gefahrenalarmierung schließt damit verbindlich einen anderen Gefahrenhorizont aus. Selbst wenn irgendwo ein Raubtier auf den »Schienenbeißer« lauert, spielt dies keine Rolle mehr,
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