Die Logik des Verruecktseins
wiederholt sich das gleiche »Drama«. Die Anzeigentafel informiert darüber, dass in acht Minuten eine weitere S-Bahn in den Bahnhof einfahren wird. Sollte man nicht mitkommen, muss man wiederum acht Minuten auf die nächste warten. Noch fünf Minuten. Langsam füllt sich der Bahnsteig.
Einige plaudern noch angeregt miteinander. Noch vier Minuten. Die Gruppe von Wartenden kommt in Bewegung. Noch drei Minuten. Die Gespräche verstummen allmählich, man bringt sich in Stellung. Manche positionieren sich entlang des Bahnsteiges an den Standorten, wo sich die Türen der angehaltenen S-Bahn gewöhnlich öffnen werden, um dadurch einen Wettbewerbsvorteil zu erreichen. Manche drängen rücksichtslos nach vorne, egal ob andere dagegen protestieren.
Noch zwei Minuten. Jetzt wird es langsam ernst. Niemand liest mehr Zeitung oder ein Buch. Keiner sitzt mehr auf den wenigen Wartesitzplätzen. Eine kompakt dastehende Menschentraube besetzt den Bahnsteig. Manche schummeln sich, anstatt sich hinten anzustellen, in die erste Reihe, indem sie von außen die Gruppe umgehen und sich zwischen diese und den Bahnsteig zwängen. Dies ist, ich muss es gestehen, auch meine bevorzugte Mitfahrstrategie. Ich nenne sie die »Von-außen-reinschummeln-Strategie«. Wir »Reinschummler« kommen dabei der Bahnsteigkante nicht ganz ungefährlich nahe. Dafür stehen wir aber jetzt in der ersten Reihe, selbstsicher, auch diesmal wieder mitzukommen und sogar einen der begehrten Sitzplätze zu ergattern. Andere Reisende ziehen sich zurück, ihnen ist das Gedränge zu rücksichtslos, sie warten lieber auf die nächste S-Bahn und werden dann vielleicht die ersten Einsteiger sein. Noch eine Minute. Alle blicken nach rechts, entlang der Bahnsteigkante. Sieht man schon die S-Bahn einfahren? Man drängelt jetzt noch mehr nach vorne und steht ganz dicht beengt. Auch diesmal, wie an jedem Morgen, zeigen sich verschiedene Strategien mit unterschiedlicher Risikobereitschaft und Erfolgsaussicht, alle entwickelt, um möglichst dem Problem, zurückgelassen zu werden, zu entgehen. »Einfahrt sofort« tönt es aus dem Lautsprecher. Die Cleversten und Wagemutigsten werden die ersten Einsteiger sein. Vor allem wir »Von-außen-Reinschummler« werden diesmal wieder dabei sein. Die lang erprobten Strategien werden sich auch diesmal bewähren. Einige trostlose Verlierer stehen in der letzten Reihe, sie werden zurückbleiben.
»Achtung, Achtung, eine Durchsage« ertönt es plötzlich aus dem Lautsprecher. »Der Zug der Linie 3 fährt heute außerfahrplanmäßig
vom Gleis 2 ab, dem Bahnsteig gegenüber.« Für einen Moment sind alle irritiert und ratlos. Dann drehen sich alle Wartenden um 180 Grad und die Bahn fährt ein. Die ganze Gruppe wälzt sich schiebend und drängelnd hinüber, und ausgerechnet die ehemals letzten der Gruppe stehen nun in der ersten Reihe. Die Bahn hält, die Türen öffnen sich, Fahrgäste strömen heraus, die Ersten, ehemals die sicheren Nichtmitfahrer, steigen ein. Die Türen schließen sich, »Bitte zurücktreten!« ertönt es aus dem Lautsprecher, die Bahn fährt ab und die Risikofreudigsten, die immer mitkamen, die Gewinner von gestern und vorgestern, bleiben jetzt als Verlierer am Bahnsteig zurück. Sonst hatten wir, die »Von-außen-Reinschummler«, immer die beste Strategie. Die Bedingungen haben sich jedoch unvorhersehbar geändert und diesmal fahren wir nicht mit.
Als sich vor mir die Türen der S-Bahn schließen und ich frustriert und frierend auf dem kalten Bahnsteig zurückbleibe, kommt mir auf einmal die Erkenntnis: So funktioniert die Evolution!
Durch Anpassung und Zufall im »Zeitzug« Evolution vorankommen
Was hat mein Bahnhofserlebnis mit Evolution zu tun? Evolution ist ebenfalls eine Art Reise. Aber nicht von Bahnstation zu Bahnstation, sondern eine Reise durch die Zeit. Die Reise von einem Ort zum anderen, von einer Bahnstation zur nächsten, geschieht über Reproduktion, also über die Zeugung von Nachkommen. Gene werden an die Nachkommen weitergegeben, diese geben sie wieder weiter. Jedenfalls wenn alles gut geht und so reisen die Gene durch die Zeit, und jeder Halt an einer Station ist der Versuch, mit der nächsten Generation über Individuen, die die Genträger sind, weiterzukommen. Sehen wir jeden Fahrgast als einen Genträger an. Sein Ziel ist es, »mitzufahren«, also seine Gene im »Zeitzug« unterzubringen, folglich Nachkommen zu haben. Da nicht jeder mitfahren kann, notgedrungen aufgrund beschränkter Ressourcen
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