Die Logik des Verruecktseins
Fingergrundgelenksschmerzen. Letztlich kann der ganze muskuläre Bewegungsapparat betroffen sein.
Das größte medizinische Problem stellen dabei die Rückenschmerzen dar, weshalb über sie ausführlicher gesprochen werden soll.
Verirrt im Gesundheitssystem: Fehldiagnostizierte Schmerzproblematiken
Seelisch kranke Patienten, meist im Kern depressiv getönt, haben häufig eine Odyssee an Arztbesuchen vor allem bei orthopädischen Kollegen hinter sich, bevor ihre eigentliche Problematik erkannt wird und sie eine geeignete Behandlung erfahren. Das lange Verweilen im rein somatisch und konkretistisch funktional orientierten Medizinsektor führt tragischerweise vielfach zu einer kaum rückgängig zu machenden Fixierung der Patienten auf ihr somatisches Krankheitsbild, wodurch das Verständnis einer eher psychischen Ursache versperrt bleibt. Fatal sind in diesem Zusammenhang durchgeführte Röntgenaufnahmen, die vermeintlich objektive, häufig eher scheinrelevante Befunde erheben, die von den Ärzten und Patienten gerne aufgegriffen und in einem somatisch orientierten Behandlungsplan oft erfolglos anbehandelt werden. Dass der Röntgenbefund vielleicht gar nicht zur Symptomschilderung passt, scheint niemanden zu stören. Nicht selten kommt es zu Spritzenbehandlungen oder sogar operativen Eingriffen ohne anhaltende Symptombesserung. Nach Jahren werden Rückenschmerzen dann immer noch damit begründet, dass man doch einen Bandscheibenvorfall habe, obwohl längst operativ eingegriffen wurde.
Entweder stimmte die Diagnose nicht oder die Behandlungsmethode war die falsche, dennoch wird beiden im eigenen Krankheitskonzept die Treue gehalten.
Wirklich schlimm ist die viel zu oft erfolgende schmerztherapeutische Behandlung bei sogenannten Schmerztherapeuten. Es werden alle möglichen Schmerzmittel bis hin zu abenteuerlichen Dosen an opiathaltigen Medikamenten verschrieben, die eine iatrogene, also durch ärztliche Maßnahmen erzeugte Suchtkarriere anstoßen, kognitiv wie emotional den Patienten einschränken und jeden psychiatrischen Zugang zum Verständnis zumauern. Man ist doch körperlich krank, man war doch beim Spezialisten.
Der Höhepunkt dieser cargomedizinischen 40 Entwicklung ist die Erfindung neuer somatischer Krankheitskonzepte wie die der Fibromyalgie. Eine Erkrankung, die sich durch ihre fehlende Objektivierbarkeit auszeichnet und zum rheumatischen Formenkreis gehören soll. Das bunte Symptombild besteht aus psychischen Problemen wie erhöhte Ermüdbarkeit und mangelnde seelische Belastbarkeit sowie Schmerzen im Bereich des Bewegungsapparates. Diagnostisch wichtig sind die sogenannten »tender points«, von denen achtzehn definiert wurden und elf bei der körperlichen Untersuchung auf Druck schmerzhaft sein müssen, um die Diagnose »zu sichern«. 1990 wurde das Krankheitsbild verbindlich durch Frederick Wolfe, den Vorsitzenden des American College of Rheumatology, definiert und erfuhr einen starken Akzeptanzaufschwung mit Spezialistenbildungen im ambulanten und stationären Bereich, einschließlich einer breiten Selbsthilfebewegung. Wolfes Originalarbeit von 1990 wird dabei immer wieder zitiert und gleichzeitig unterschlagen, dass er sich 2003 mit folgenden Worten selbst von diesem Krankheitskonzept distanziert hat: 41
»Die Tender points als zentrales Diagnosekriterium zu benennen war wohl ein Fehler. Dadurch wurden nämlich die zentralen psychosozialen und Leid erzeugenden Charakteristika der Symptomatik ignoriert und durch ein physikalisches Merkmal ersetzt. Hiermit haben wir es leider ermöglicht, die Fibromyalgie als eine körperliche Erkrankung anzusehen. Darüber hinaus verwischten wir auch noch
alle zentralen Verständnisspuren hin zu den bedeutsamen Charakteristika der Erkrankung. Aber: Je stärker der Arzt auf die Tender points drückt, je mehr er also an das Krankheitskonzept selbst glaubt, desto mehr Fibromyalgieerkrankungen wird er dennoch finden …«
Wenn sich der bedeutendste Initialprotagonist von seinem eigenen Krankheitskonzept distanziert, warum wird dieses dann beibehalten? Auffällig ist die Zurückweisung der Fibromyalgiekonzeptvertreter einer psychischen Grundursache oder Mitbeteiligung. Obwohl sich ein psychosomatisches Verständnis für viele Erkrankungen in einer breiten Öffentlichkeit durchgesetzt hat, wird dieses bei der Fibromyalgie abgelehnt. Patienten sollen nicht »psychiatrisiert« werden. Dies geht so weit, dass unlängst sogar behauptet wurde, man habe die für die
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