Die Logik des Verruecktseins
Fibromyalgie verantwortlichen Gene identifiziert. Sie sollen an einer erhöhten Schmerzwahrnehmung bei erniedrigter Schmerzschwelle beteiligt sein. Hier wird eine somatische Alarmierung, der eigentlich kein eigener Krankheitswert zusteht, zu einer Krankheitsrealität erhoben, die Ganzheitlichkeit des Menschen fatalerweise außer Kraft gesetzt und Patienten letztlich alleingelassen.
Eigentlich ist die Schmerzproblematik ganz einfach zu verstehen. Menschen und andere Primaten signalisieren ihre innerlichen Befindlichkeiten nach außen mit Hilfe von Mimik, Gestik und körperlichem Ausdrucksverhalten. Der typische Körperausdruck bei mangelndem Selbstwertgefühl zeigt, wenn er nicht mehr überspielt werden kann, einen Menschen mit eingezogenem Kopf bei hochgezogenen Schultern. Dieses sich reflektorisch einstellende Ausdrucksschema diente ursprünglich bei den Primaten zur Gefahrenabwehr von aus der Luft angreifenden Greifvögeln. 42 Im Laufe der Evolution wurde dieses Abwehrverhalten, welches von anderen als Gefahrensignal gedeutet werden konnte, in das protohumane, sozial orientierte Ausdrucksverhalten transformiert. Aufgrund der zunehmenden Fähigkeit unserer Vorfahren, sich in die emotionale Lage eines Artgenossen zu versetzen, erlangten wir die Kompetenz zu erkennen, dass sich die angezeigte Gefahr nicht mehr über dem Kopf des Betroffenen befindet, sondern in ihm selbst. Daher unsere Aufmerksamkeitserzwingung, die sich unmittelbar einstellt, wenn wir einem
Menschen mit einem solchen Ausdrucksverhalten begegnen. Wir müssen uns dann zuwenden, wenn wir einen Menschen sehen, der auf das Äußerste bedrückt wirkt, denn dieses Signal aktiviert unsere Hilfsbereitschaft.
Das beschriebene körperliche Ausdrucksschema führt bei Daueraufrechterhaltung, wie ein Selbstversuch schnell zeigen kann, zu einer Fehlhaltung mit Muskelschmerzen, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen in der Lendenregion und schließlich Ganzkörperschmerz. Dass die sehnenmuskulären Übergänge mit ihren tiefensensiblen Sensoren besonders betroffen sind, die als »Tender points« unter Druck hypersensibel reagieren, ist nicht verwunderlich. Vor allem im Schulternackenbereich sind oft schon bei der Inspektion im Rahmen der körperlichen Untersuchung solcher Patienten vorgewölbte Muskelverhärtungen zu sehen, die auf eine chronische seelische Anspannung schließen lassen und eine Richtungsdiagnose ermöglichen.
Das gegenwärtige Medizinsystem mit seiner apparativen Gläubigkeit und seiner mangelnden Ganzheitlichkeit im Denken wendet sich solchen Patienten mit Apparaten, konkretistisch somatischen Konzepten und Therapien zu, die gut gemeint sind, aber am eigentlichen Signal und der eigentlichen Absicht vorbeigehen. Menschen, die selbst aufgrund fehlendem oder in Teilbereichen missglücktem Ergänzerfunktionserleben nicht ausreichend lernen durften, eine somatopsychische Ganzheit zu werden, also nicht lernen konnten, dass sich Seelisches im Körperlichen repräsentiert, greifen die angebotenen Hilfen auf körperlicher Ebene unter gemeinsamer Verleugnung seelischer Faktoren mit den Ärzten begierlich auf und beschreiten dann die Wege vergeblicher und teilweise schädlicher somatischer Behandlungen. In den letzten Jahren ist mir nur ein einziger Fall begegnet, bei dem ein orthopädischer Kollege bei einer seiner Patientinnen mit Kreuzschmerzen (eine sogenannte Lumbago), die auf keine seiner Therapien ansprach, zutreffend eine Depression diagnostizierte und eine für die Patientin sehr gewinnbringende psychiatrisch-stationäre Behandlung bahnte. In der Regel wird weiterbehandelt oder die Patienten springen von Arztpraxis zu Arztpraxis und von Hoffnung zu Hoffnung, mit Zwischenaufenthalten in tiefer Enttäuschung.
Die Psychiatrie ist an dieser Entwicklung vielleicht aber auch nicht ganz unschuldig, da sie im Imitationseifer gegenüber den »echten« medizinischen, somatischen Fächern die Ganzheit des Menschen ebenfalls aus den Augen verloren und sich auf objektivierungsfähige Befunderhebungen verlagert hat. Auch wenn man Wiederholungen vermeiden soll: Die körperliche Untersuchung ist die Fortführung der psychopathologischen Befunderhebung mit anderen Mitteln. Mit ihrer Hilfe wird aufgrund der ganzheitlichen Funktionsweise des Menschen das somatische Ausdrucksgeschehen psychischer Störungen visitiert. Ärzte visitieren und diagnostizieren hierdurch das Ausmaß des bereits eingesetzten Alarmierungsniveaus und dessen Dringlichkeit. Einfacher ausgedrückt:
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