Die Logik des Verruecktseins
»das Biest« nicht sehe. Ich sah mir noch einmal das Einmachglas an, konnte aber immer noch nichts darin entdecken. Ich ließ mir beschreiben, was ich denn sehen sollte. Er beschrieb daraufhin ein etwa zehn Zentimeter großes, fingerdickes, farbloses Wurmobjekt, das sich durch das Einmachglas bewege. Er habe es von zu Hause mitgebracht, wo es seit einigen Nächten immer wieder auftauche. Mehrere Nächte habe er vergeblich versucht, den Wurm einzufangen, dieser sei aber immer schneller gewesen als er. Er vermute, dass er sich auch blitzschnell in den Teppich oder in das Sofa hineingebohrt habe, weshalb bisher jeder Fangversuch gescheitert sei. Heute Nacht sei es ihm aber gelungen, das Tier einzufangen. Er wolle nun wissen, worum es sich dabei handle und wie man es wieder loswerden könne. Die weitere Exploration ergab, dass der Mann bei einer gemeinsamen Wochenendreise mit seiner Freundin vor fünf Tagen schlagartig seinen nicht allzu großen, aber doch täglichen Alkoholkonsum eingestellt hatte. In der dritten Nacht war der Wurm erstmalig aufgetaucht.
Der Mann war vollkommen orientiert und zeigte keinerlei Bewusstseinsstörung. Ganz offensichtlich war er aber deutlich kritikgemindert. Ich gestehe, der Versuchung nicht widerstanden zu haben, denn ich öffnete nach den Schilderungen des Mannes, die eine Verdachtsdiagnose erbrachten, das Einmachglas, indem ich den Deckel abschraubte und das Glas mit der Öffnung nach unten drehte. Der Patient machte einen erschreckten Satz zurück, starrte auf den Boden, rief mir zu: »Vorsicht, das Biest«, fiel auf seine Knie und kratzte mit den Fingernägeln auf dem Fußboden an der Stelle, wo seiner Meinung nach der Wurm aufgeschlagen war. Er sei verschwunden, bemerkte er, er habe sich wieder in den Boden hineingebohrt. Ich trat mit den Schuhen einige Male feste auf die Stelle des Fußbodens, bemerkte, jetzt sei das Biest sicherlich tot, und leitete die stationäre Aufnahme in die Psychiatrie ein.
Im Gegensatz zu den bisher besprochenen Delirpatienten zeigte dieser Patient keinerlei Orientierungsstörungen. Er war zum Ort und zur Zeit stets vollkommen orientiert. Es handelte sich um ein
sogenanntes »besonnenes Delir«, das symptomatisch leiser als die »richtigen« Delirien verläuft und weniger Angst und motorische Anspannung entlädt. Seltsam war, dass sich der Patient an einen Psychiater gewendet hatte. Er hatte bis dahin aufgrund seines mäßigen Alkoholkonsums gar nicht bemerkt, dass er körperlich abhängig war und keinerlei Problembewusstsein besessen. Lediglich seine Freundin fühlte sich gestört, weil immer irgendwie Alkohol mit im Spiel sein musste. Als ich ihn nach Abklingen des Delirs darauf ansprach, gab er an, irgendwo gewusst zu haben, dass er die Hilfe eines Psychiaters benötige, da er aus seiner ganzen Lebenserfahrung nichts Vergleichbares habe ableiten können.
Schlussfolgerungen
Damit haben wir die typischen Prägnanztypen des Alkoholentzugsdelirs beschrieben. Ihre Außenformen und Entfernung von der deliranten Person werden gebahnt durch die evolutionär erwachsenen Raumbühnen eins bis vier. Die Erscheinungsformen der Inhalte sind ebenfalls abhängig von evolutionär gewachsenen Überwachungsmodalitäten und bedienen sich unterschiedlicher Sinne. Sie sind unterschiedlich fehleranfällig und zerfallen im Delir von außen nach innen. Auch die Person selbst wird immer weiter geschwächt und in ihrer Individualität eingeschränkt. Wird nur noch auf der letzten Raumbühne ein einzelnes Objekt wahrgenommen, besteht nach außen sichtbar keinerlei Individualität mehr. Der Mensch aber ist noch da.
Im Alkoholentzugsdelir kommen die im vorangegangenen Kapitel vorgestellten Raumbühnen unmittelbar zur Anschauung. Auf ihre Existenz als Weltunterteilungsmodus des Gehirns in der Funktionsweise des Gesunden ist anhand der psychopathologischen Phänomenologie des Entzugsdelirs unmittelbar zu schließen. Das Gehirn kommt mit der Welt nur deshalb einigermaßen zurecht, weil es ein evolutionär erworbenes Wissen mitbringt, welches darüber Bescheid weiß, in welcher Entfernung von der Person mit welchen Objekten und welchen Gefahrenmomenten zu rechnen ist. Im individuellen Lebensverlauf wird dieses universell vorhandene
Hintergrundwissen mit Erfahrung angereichert und die Stabilität der Bühnenkonstruktionen durch Einüben gefestigt. Diese Stabilität wird mehr oder weniger optimal erreicht. Sind wir »gesund«, sind die Bühnenränder und ihre Übergangsfelder so
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