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Die Logik des Verruecktseins

Titel: Die Logik des Verruecktseins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Preiter
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auftauchen.
    Halluzinationsfördernd sind dabei leere Flächen wie kahle Wände, da durch die hier entstehende optische Reizdeprivation Platz für die Halluzinationen geschaffen wird. Hat man klinisch den Verdacht, dass ein Patient beginnt, optisch zu halluzinieren, nimmt man ein leeres Blatt Papier, täuscht im Beisein des Patienten vor, darauf etwas zu zeichnen, und hält ihm mit der Aufforderung, das Gesehene zu beschreiben oder vorzulesen, das Blatt hin. Die Reizdeprivation des leeren Blattes führt dann dazu, dass Linien, Muster, Zahlen oder Wörter gesehen und beschrieben werden. Die Patienten sind verglichen mit der vorangegangenen Raumbühne deutlich schlechter verbal
erreichbar und im Kontakt fahriger. Die Exploration ist zäh, die Stimmung misslauniger oder sogar gereizt ablehnend. Manche werden wütend, wenn man versucht, sie von ihren Halluzinationen abzulenken. Der Kontakt ist oberflächlich und floskelhaft, komplexere Selbstauskünfte der Patienten zu ihrer Krankengeschichte oder zum Trinkverhalten sind nicht mehr möglich.
Fallbeispiel 3: Zum Greifen nahe
    Ein 50 Jahre alter Mann kommt in Begleitung seiner Frau und auf deren Drängen in die zentrale Notaufnahme. Er wolle nun eine Entgiftung vom Alkohol machen, da seine Frau behaupte, er sei alkoholkrank. Der Patient muss zunächst warten, erscheint wenig selbstmotiviert, wird schließlich gereizt und laut und fängt an, das Pflegepersonal zu beschimpfen. Als er sogar handgreiflich wird, sperrt man ihn unter lautem Protest in eine dafür vorgesehene Zelle, die, bis auf eine Matratze am Boden, vollständig leer ist. Als der Psychiater eintrifft und die Zelle in Begleitung betritt, steht der Mann in einer Ecke der Zelle und wirkt sehr beschäftigt. Er greift mit beiden Händen nach unsichtbaren, etwa handtellergroßen Objekten, die er von links nach rechts sortiert. Dann hebt er mehrere, etwa bierkastengroße Objekte an, die er aufeinander stapelt. Auf Ansprache reagiert er nicht oder nur unwirsch einsilbig. Beim Nähertreten bleibt er in seiner Tätigkeit haften, weicht dem Krankenhauspersonal aus, als nehme er keine wirkliche Notiz von ihnen. Er schwitzt stark und atmet schwer. Ohne Unterlass greift er nach den Objekten und ist nur schwer davon zu überzeugen, Medikamente einzunehmen. Die Ärzte erkennt er nicht mehr als Hilfspersonen, trotz des hohen Symbolwertes der von ihnen getragenen weißen Kittel. Der Mann war von Beruf Apfelbauer und hatte in der Delirwelt seinen Obststand am Markt aufgebaut.
    Die zweite Raumbühne ist den Händen fast zum Greifen nahe. Durch Hinbewegung auf sie zu, können Objekte in ihr angefasst und
gehandhabt werden. Die unbelebten Objekte variieren in ihrer Größe tatsächlich zwischen Äpfeln und Bierkisten. Sind die Objekte größer, sind sie auch weiter von der Person entfernt und gehören zum Interieur der dritten Raumbühnenwelt. Neben den unbelebten Objekten kommen zum Leidwesen mancher Patienten auch belebte Objekte vor. Tiere von Hamster- bis Kleinhundgröße erscheinen auf der Bühne. Sind sie einmal da, ist ihre Anzahl immer größer eins. Es können harmlose Tauben sein, die zu Hause auf dem Bettpfosten sitzen, oder Katzen, die nur im Augenwinkel sichtbar werden und bei genauerem Hinsehen plötzlich verschwunden sind. Unangenehm wird es, wenn diese belebten Objekte in großer Anzahl auftreten. Es sind dann in Schwärmen auftretende Tiere wie Ratten, Schlangen oder Spinnen, die sich noch jenseits der Hand befinden, aber gefährlich schnell und von allen Seiten näher kommen. Die Patienten erfasst gleichzeitig panische Angst, da es aufgrund des Rundumangriffes keinerlei Ausweg zu geben scheint. Dies sind die berühmten »weißen Mäuse« des früher sogenannten »Delirium tremens«.
    Evolutionär betrachtet handelt es sich um eine uralte Säugetierangst, die ihren realen Hintergrund in der damaligen Bedrohung durch aggressive Schwarmtiere findet. Der Artgenosse taucht als Halluzination hier nicht mehr auf, er wird weder gesehen noch gehört. Der Realraum ist praktisch nicht mehr existent, der Bühnencharakter der ineinander gestaffelten Raumprojektionen wird jetzt ganz deutlich. Es wird eine undurchsichtige und schallisolierte Raumblase in den Realraum hineinhalluziniert, deren Inhalt, im Beispiel der Marktstand, die Person ganz in ihren Bann zieht und mit Tätigkeiten beauftragt. Es muss im Raum um mich herum angepackt und zugepackt werden, die Welt will sortiert und geordnet sein. Die Persönlichkeit des

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