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Die Logik des Verruecktseins

Titel: Die Logik des Verruecktseins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Preiter
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gesteckt wird. Die Aufmerksamkeit und Handlungsbereitschaft der Person ist auf den Raum zwischen Händen und dem Mund beschränkt. Anderes, darüber Hinausgehendes der Welt wird nicht mehr wahrgenommen.
Kein Artgenosse taucht hier auf, keine Tiere und keine Objektvielfalt, es muss selbst nicht mehr gesprochen und Sprache nicht mehr verstanden werden. Nur ein einziges Objekt ist da und ein Binnenvolumen, das ausreicht, um dieses Objekt zu identifizieren bzw. im Krankheitsfall zu halluzinieren. Mehr braucht es nicht. Die Essbarkeit ist die Hauptfrage, die das verbliebene Binnenvolumen an das Objekt stellt.
    Die Person ist in ihrer Individualität zumindest nach außen nicht mehr sichtbar und nicht mehr kommunikationsfähig. Was im Inneren als verbliebener Persönlichkeitsanteil wahrgenommen wird und mitverhandelt, entzieht sich unserer Kenntnis. Keiner kann nach einem solch schweren Delir angeben, was er erlebt hat. Der Weltbezug ähnelt stark dem ersten Sein im Außen, wie wir ihn in früheren Kapiteln kennengelernt haben, ist mit diesem aber nicht ganz deckungsgleich. Wir haben eine Person vor uns, welcher der Weltentwurf nicht gelingt, unter Umständen flackert er aber bruchstückhaft im inneren Erleben auf und erlischt dann wieder. Dass dies so sein könnte, darauf gibt der unter Umständen sehr fluktuierende Verlauf des Delirs einen Hinweis. Theoretisch und gelegentlich auch klinisch beobachtbar verläuft das Delir, wie weiter oben beschrieben, mit dem stufenförmigen Verlust der Außenraumbühnen und ihrer Inhalte von weit weg bis nah heran zum letzten, kleinen Weltobjekt. Zwischen- und Übergangsformen sind dabei möglich. So kann aus dem nicht optisch einsehbaren Nebenraum Sprache vernommen und gleichzeitig eine Person optisch halluziniert werden. Eine plötzliche Ausdehnung des Binnenvolumens und eine damit einsetzende Wiederansteuerung einer bereits abgeschalteten Außenraumbühne kommt vor. Gerade sehen die Patienten die kleinen bedrohlichen Schwarmtiere auf sich zukommen und sind voller Angst, durch Zuwendung und Ansprache gelingt die Lösung und Ablenkung von der Gefahr, man kann miteinander sprechen, und im nächsten Moment sind wieder nur die bedrohlichen Tiere da. Die dahinterliegende Bühne mit dem realen Gesprächspartner verdunkelt sich und verschwindet. Es könnte doch sein, dass sie im tiefen Ersten-Raum-Delir oder auch im noch tieferen Delir, wo die Patienten den vollkommenen Weltzerfall »erleben«,
keinerlei Kontakt mehr aufnehmen und selbst das letzte Weltobjekt verschwunden ist, für Sekundenbruchteile ihr Binnenvolumen immer noch ausdehnen können. Dabei fliegen vielleicht Weltfetzen vorbei, aber nur so kurz, dass kein Bezug und kein Kontakt hergestellt werden können. Aus diesem Grund ist den Delirpatienten, trotz ihres vor allem bei der letzten Raumbühne zu beobachtenden, mitunter kindlich anmutenden Verhaltens, die gesamte Personenfülle eines gesunden Erwachsenen zuzugestehen.
    Das Gleiche gilt meiner festen Überzeugung nach auch für demente Menschen, also beispielsweise für diejenigen, die an einer Alzheimererkrankung leiden, ganz gleich, wie schwer die Demenz ist. Die öffentliche Diskussion um die Lebensgüte von Demenzerkrankten, die manchmal mit Begriffen wie »Zombiedasein« oder »lebendig begraben sein« etikettiert wird, lässt eine ungute gesellschaftliche Bewertungsrichtung ahnen. Wenn wir aber anfangen, Menschen nur noch nach ihrer Außenwirkung und Kommunikationspotenz zu beurteilen und wertzuschätzen, dann ist die Ausweitung inhumaner Kampfzonen unserer Wettbewerbsgesellschaft in die Medizin hinein unumkehrbar gelungen.
Fallbeispiel 5: Das »besonnene Delir«
    Mitunter sieht man Delirien, bei denen eine Raumbühnenkonstruktion und ihre Inhalte isoliert in die ansonsten richtig identifizierte Welt hineinprojiziert wird. Der merkwürdigste Fall dieser besonderen Delirformen, den ich jemals gesehen habe, war der folgende:
    Nachts kam ein etwa 50 Jahre alter Mann in die Notaufnahme und bat darum, einen Psychiater zu sprechen. Als ich in der zentralen Notaufnahme ankam, traf ich auf einen gepflegt und ruhig im Untersuchungsraum wartenden Mann. Er erhob sich freundlich, reichte mir die Hand und gab an, Hilfe zu benötigen. Aus einer mitgeführten Aktentasche holte er mit spitzen Fingern ein verschlossenes Einmachglas heraus und zeigte es mir deutlich geängstigt. Das Glas war
ganz offensichtlich leer. Auf meine Frage, was dies denn sei, reagierte er verwundert. Ob ich denn

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