Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Logik des Verruecktseins

Titel: Die Logik des Verruecktseins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Preiter
Vom Netzwerk:
Betroffenen ist aufgrund des deutlich reduzierten Binnenvolumens fast gänzlich aufgehoben, man kann mit ihm nicht mehr geordnet kommunizieren und sich ein Bild von ihm machen. Persönlichkeitsspuren zeigen sich allerdings immer noch im Inhalt der Raumbühne, der beschriebene Patient hatte einen Aspekt seiner beruflichen Tätigkeit motorisch abgespult.

Fallbeispiel 4: Von der Hand in den Mund
    Eine 99-jährige Patientin wird nachts notfallmäßig in die zentrale Notaufnahme gebracht. Die Patientin liegt im Bett, ist wach, aber nicht ansprechbar, antwortet auch nicht auf einfache Fragen. Die neurologische Untersuchung ist weitgehend unauffällig, natürlich bis auf das deutliche Psychosyndrom: Die sehr gepflegt wirkende Patientin greift ununterbrochen nach einem unsichtbaren, etwa kirschkerngroßen Objekt, übergibt es der anderen Hand mit spitzen Fingern, führt es zur Nase, beriecht es offensichtlich, führt es zum Mund, scheint es darin aufzunehmen, um es dann wieder mit Daumen und Zeigefinger herauszuholen. Eine begleitende Urenkelin berichtet, dass ihre Urgroßmutter noch vollkommen selbständig lebe. Sie kaufe ein, habe regen Kontakt mit anderen Menschen und sei in verschiedenen Seniorenkreisen tätig. Heute Abend habe sie ihre Urgroßmutter vollkommen verändert in diesem Zustand vorgefunden und den Notarzt verständigt. Eine dekompensierte Demenz scheidet offensichtlich aufgrund der fehlenden Gedächtnisstörungen in der Vorgeschichte differentialdiagnostisch aus.
    Zur Überwachung wird die Patientin in die Neurologie aufgenommen. Zwei Tage später sehe ich sie dort auf Bitten der neurologischen Kollegen fachberatend wieder. Die mittlerweile erfolgte magnettomographische Untersuchung des Kopfes, bei der das Gehirn und seine Form beurteilt werden können, war mittlerweile erfolgt und ohne größere Auffälligkeiten. Die Patientin erscheint in diesem Kontakt vollkommen unauffällig, sehr eloquent in ihrer Sprache und unglaublich rüstig. Der Konsilanforderung der neurologischen Kollegen ist zu entnehmen, dass sie bereits am Tag nach der Aufnahme und der Gabe spezifischer Beruhigungsmittel wieder vollkommen orientiert und unauffällig kontaktierbar war. In der nächsten Nacht zeigte sie allerdings wieder das gleiche delirante Bild, um am folgenden Tag doch wieder vollkommen geordnet zu sein. Sämtliche apparativen Untersuchungsbefunde einschließlich Labor waren ohne richtungweisende Befunderhebung verlaufen. Die Patientin
war gesund und zeigte dennoch jede Nacht ein Delir. Die Eigenanamnese verlief unauffällig, Alkoholkonsum wurde glaubhaft verneint. Medikamente waren im häuslichen Bereich auch nicht eingenommen worden, die Patientin war so gesund, dass sie keinerlei internistische Medikation benötigte. Ich war ratlos.
    Nachdem ich mich von der Patientin verabschiedet hatte, sprachen mich auf dem Flur noch Angehörige, zwei Urenkel, an und erkundigten sich. Mehr aus Routine befragte ich sie ebenfalls nach Alkoholkonsum, der wiederum verneint wurde. Ich fragte, ob sie denn ganz abstinent lebe, was lachend auch verneint wurde. Nein, man trinke immer zur Begrüßung ein Glas Sekt miteinander, aber immer nur eins, für den Kreislauf. Eine Flasche stehe bei ihr stets im Kühlschrank. Damit war die Diagnose klar. Die Patientin hatte eine körperliche »low-dose«-Alkoholabhängigkeit und war in beiden Nächten in ein Entzugsdelir geraten. In der Klinik hatte sie dann kleine Benzodiazepinmengen gegen die körperliche Unruhe und zur Schlafanstoßung erhalten, welche die Entzugssymptomatik erfolgreich zurückgedrängt hatten. Da die Medikation nicht fortgeführt worden war, rutschte sie in der zweiten Nacht, zusätzlich destabilisiert durch die nächtliche Reizdeprivation, wieder in ein Delir. Um der Patientin keinen in ihrem Alter sehr gefährlichen Alkoholentzug zuzumuten, wurde sie umgehend in Begleitung der Angehörigen und nach erfolgter Aufklärung nach Hause entlassen. Wir empfahlen ihr noch, am gleichen Abend und an allen folgenden Abenden mit ihren Angehörigen mit ihrer Lieblingsmarke auf unser Wohl anzustoßen. Keinen alkoholkranken Patienten habe ich je wieder in der Krankenhausentlassungssituation so sehr ermutigt weiterzutrinken, wie ich es bei dieser Dame tat.
    Das Fallbeispiel zeigt die Projektion der ersten Raumbühne als tiefste Delirform. Die ganze Welt ist zusammengeschrumpft auf ein einziges brustwarzengroßes, unbelebtes Objekt, mit dem herumhantiert wird, an dem man riecht und das in den Mund

Weitere Kostenlose Bücher