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Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thorsten Nesch
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in die Dunkelheit. Verrückterweise dachte ich, dass der Anruf der Mutter wenigstens bewies, dass es keine Atombombe war.
      Ein Tropfen zerplatzte auf meiner Schläfe.
      Stille.
      „Julia, Julia!?“, rief ich und, nachdem sie sich nicht meldete, den alten Mann, „Hören Sie mich? Hallo? Haben Sie das gehört! Neben mir liegt ein Handy.“ Vielleicht konnte er mich hören, war aber zu schwach mir zu antworten. „Ich versuche dranzukommen. Halten Sie durch.“
      Kein Zeichen von ihm.
      Wieder reckte ich meinen Arm in die Richtung, als wäre ich seit dem Anruf gewachsen.
      Ich brauchte etwas Langes. Der Bolzen hätte gereicht. Mit ihm hätte ich das Handy zu mir fischen können. Ein kirres Lachen entfuhr mir.
      Ich tastete einige Male links von mir in den Schutt und Matsch. Dann beschloss ich systematisch von unten nach oben, meine freie Hand über den Boden neben mir gleiten zu lassen, als würde ich im Schnee liegend einen Engel mit nur einem Flügel machen.
      Ich musste aufpassen, Glassplitter wechselten mit scharfen Metallteilen ab. Das hatte ich im Scheinwerferlicht gesehen. Jetzt pieksten und ritzten sie in meinen Handballen und in meine Finger. Ich hob Gegenstände an, aber alleine am Gewicht spürte ich, dass es sich nicht um längliche Objekte handelte. Lediglich abgebrochene Kleinteile rieselten durch meine Finger auf den Boden.
      Meine Hand fand etwas Rundes, das sich plötzlich bewegte. Erschrocken ließ ich es fallen, und am trippelnden Geräusch erkannte ich den Krebs.
      Mein Herzschlag beruhigte sich wieder, ein Tropfen platschte mir ins Auge, ich wischte die Flüssigkeit mit meinen Fingern weg, blinzelte, obwohl ich nichts sehen konnte, und durchkämmte mit meiner Hand weiter den Boden. 
      Nach dem dritten Durchgang gab ich auf. In meiner Reichweite lag einfach kein langer Gegenstand, mit dem ich nach dem Handy angeln konnte. Den einzigen Gegenstand, der mir geholfen hätte, hatte ich achtlos in einem überflüssigen Anflug von Jähzorn weggeschmissen.
      Halbherzig probierte ich die Schraube, aber sie war zu kurz. Wieder lachte ich auf, auch weil ich mich heute Morgen gegen den Schlips entschieden hatte. Eine kleine Entscheidung, die den großen Unterschied machte.
      In dem Armani-Hemd hatte mich Lilli zum ersten Mal gesehen.
     
     
    Wir hatten uns nach den ganzen SMS, E-Mails und Telefonaten endlich in dem Restaurant einer Autobahnraststätte auf der A 5 getroffen, auf halbem Weg zwischen unseren Wohnorten, zwischen Frankfurt und Wölfersheim, zwischen unseren Beziehungen, die wir beide beibehalten wollten. Das hatten wir schon geklärt.
      Warum ich mich beim Onlinechat angemeldet hatte, konnte ich kaum sagen. Es war in erster Linie Langeweile. Wenn Francesca Montag abends mit ihren Freundinnen unterwegs war, surfte ich immer im Internet. Zunächst recherchierte ich Erntevorhersagen in politisch relevanten Krisenregionen. So ging das jeden Montag, es war ja der Anfang der Arbeitswoche, da machten die quasi erzwungenen Überstunden Sinn. Je mehr Informationen desto besser. Danach spielte ich zur Entspannung online Mahjong.
      Nach meiner Runde Mahjong blieb ich oft am Computer sitzen und klickte mich durch das Internet, bis ich bei einem Online-Chat landete, dessen Anmeldung kostenlos war. Warum nicht, dachte ich, schaden konnte es nicht.
      Mit Francesca und mir klappte es. Probleme hatten wir eigentlich keine. Ich konnte mich nicht beschweren, aber auch nicht in Jubel ausbrechen. In ein paar Jahren würde ich sie vermutlich heiraten. Das lag allerdings noch in weiter Ferne. Näher lag da, diese Person mit dem vor Lebendigkeit sprühenden Bild kennen zu lernen. Auf ihrem Foto ragte sie, anders als die anderen Frauen in dem Chatroom, halb aus dem Rahmen, mit geschlossenen Augen laut lachend, und daneben stand: Lilli; 31; Beruf: Werbetexterin; Hobby: Volleyball; Motto: Verheiratet, aber immer für einen Spaß zu haben. Augenfarbe: Dafür musst Du mich schon kennen lernen!
      Ich dachte, noch war ich nicht verheiratet, noch hatte ich keine eigene Familie. Und wahrscheinlich würde dahinter sowieso kein wirklicher Mensch stecken, niemand würde antworten, oder falls doch, dann wohl ein Kerl, der einem was verkaufen wollte.
      Es kam anders.
      Zuerst emailten wir uns, und einen Montag später telefonierten wir miteinander. Ein langes Gespräch, wir lachten viel, alberten herum wie zwei Teenager. Am darauffolgenden Montag verabredeten wir uns in dem Restaurant auf der

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