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Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thorsten Nesch
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rentabel ...“
      „Rentabel, rentabel, natürlich waren wir rentabel, wir hatten schwarze Zahlen geschrieben, aber einige im Vorstand konnten den Hals nicht vollkriegen. Ich will gar nicht wissen, wie viel Geld in deren Taschen floss.“
      Der alte Mann wollte an einem Stück Börsengeschichte rütteln. Kein deutsches Sachbuch zum Thema Wirtschaft, das nicht wenigstens im Vorwort Ziegler erwähnte, wenn es um den Beginn moderner Firmenumstrukturierung und Globalisierung ging. Ein Vorreiter.
      „Schwarze Zahlen?“, fragte ich, „Woher wollen Sie das wissen?“
      „Woher ich ...? Als Gewerkschaftsvorsitzender hatte ich Einsicht in die Bücher!“
      „Oh.“
      „Ja, Herr Ochs, es scheint, wir sind jeweils vom anderen Ende der Fahnenstange.“
      „Hatten Sie dann etwas mit dem großen Streik zu tun?“
      „Wir haben ihn organisiert!“
      Der Stolz in seinen Worten schwang durch das Metall und den Schrott bis zu mir.
      „Hat aber nichts geholfen“, sagte ich.
      „Gegen Geld hilft nichts“, der Stolz in seiner Stimme wich der Verachtung.
      „Da hilft nur mehr Geld.“
      „Wir konnten Feuer nicht mit Feuer bekämpfen. Da kam eine ganze Feuerwand auf uns zu. Wir waren eines der ersten deutschen Opfer dessen, was sie jetzt Globalisierung nennen.“
      Ich atmete laut aus. Das wusste jeder in der Wirtschaft. Ziegler, das Musterbeispiel. Und ich saß gerade gefangen mit einem damaligen Gewerkschaftler im gleichen Boot.
      „Wir haben gekämpft und verloren“, sagte er.
      Ich musste das Gespräch auf ein anderes Thema bringen, „Danach ... was haben Sie danach gemacht?“
      „Vorruhestand. Aussortiert. Herr Ochs, eine Frage habe ich“, zwischen seinen Worten hatte er keine Pause gelassen.
      „Ja?“
      „Wie fühlt man sich ... als Börsenmann? Wenn man mit dem Glück von anderen spekuliert?“
      Kurz blitzte das Scheinwerferlicht auf, als würde jemand ein Foto von der Szenerie schießen, dann war es wieder dunkel. Vor meinen Augen trieben die flüchtig illuminierten Konturen als vergängliches Negativ nach links unten weg. Ich blinzelte, und sie starteten wieder in der Mitte meines Sichtfeldes, nur um den gleichen Kurs zu nehmen, bis auch sie verblassten und vollkommene Schwärze auf mich einstürzte.
      „Das hat nichts mit Glück zu tun. Das ist das Gesetz des Marktes“, sagte ich.
      „Das ist das Gesetz des Dschungels, der Mächtigere gewinnt.“
      „Das ist Evolution.“
      „An deren Ende angeblich der Mensch steht! Dem müsste dann doch etwas Besseres einfallen. Wo sind denn die menschlichen Werte, die Ethik?“
      Ethik? War er ein Zeuge Jehovas? Ich fragte ihn, „Sind Sie religiös?“
      „Gott und ich. Unser Verhältnis ist schwierig. Nach dem, was ich alles erleben musste ... und muss. Ich bin gläubig, wenn Sie das meinen, aber ich gehe nicht regelmäßig in die Kirche.“
      Immerhin blieb mir das erspart.
      „Und Sie?“, setzte er nach.
      „Ich bin getauft“, sagte ich und betonte es so, dass damit alles gesagt war. Getauft, mehr nicht.
      „Traurig ist das“, fing er wieder an, „Das Gesetz des Marktes. Traurig.“
      „Was ist daran traurig? Ich arbeite, viel sogar, sehr viel, und weil ich gut bin, kann ich mir den ein oder anderen Traum erfüllen.“
      „Sie erfüllen sich ihre Träume auf den Träumen anderer.“
      Ich wünschte, mir würde ein anderes Gesprächsthema einfallen.
      Der Scheinwerfer der Lokomotive nahm mir die Entscheidung ab. Über mir leuchtete es wieder auf, unrhythmisch, mal schwächer, mal stärker strahlend.
      „Haben Sie auch Licht?“, rief ich.
      „Ja, etwas.“
      Wir schwiegen, als würden wir andächtig die Ankunft eines verloren geglaubten Angehörigen erwarten, als würde das Flackern des Scheinwerfers und die bizarren Schatten einen neuen Lebensabschnitt einläuten.
      Ich suchte wieder nach etwas, womit ich mir das Handy heranholen konnte. Natürlich hingen etliche Schläuche, Drähte und Stangen herunter, aber keine, die ich greifen konnte. In meinem erreichbaren Umfeld lag nichts, was mir helfen könnte, diese lächerlich kleine Entfernung zum Handy zu überwinden.
      Hinter dem Telefon hatte die Wucht des Unfalls eine PVC-Platte in den Boden getrieben. Ich schmiss kleine Schrottteile dagegen, damit das Metall zurückprallte und das Handy vielleicht so zu mir beförderte. Der Dreck spritzte bis in mein Gesicht. Es klang wie grobkörniger Sand in dem Radkasten meines

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