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Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thorsten Nesch
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Raststätte. Der Wochenanfang hatte einen neuen Reiz bekommen.
      Ich wartete fünf Minuten auf einer geschwungenen Sitzbank, die einem amerikanischen Diner nachempfunden war, dann kam sie durch die Tür, mit ihrem breiten Lächeln, das ihre doppelten Grübchen betonte, großen, klaren Augen, nur in weißem T-Shirt, Jeans und Badelatschen. Sie zeigte ihre Figur, ich sollte ruhig sehen, dass sie nicht gertenschlank war. Es stand ihr. Und wir lachten, weil ich meinen Anzug trug. Wen ich denn hier zum Geschäftsessen erwarten würde?
      Wir tranken den Kaffee nicht zu Ende und fuhren in ein Etap Hotel. Der Reiz des Verbotenen, die diebische Freude über zwei sportliche Stunden im Bett mit dieser attraktiven Frau, dieser Blick in den Augen beim Abschied. Unbezahlbar. Hellgrün.
      Von da an trafen wir uns alle zwei Wochen. Die klassische Entschuldigung, Überstunden wegen eines außerordentlichen Meetings und Konferenzen funktionierte bei Francesca einwandfrei. So einfach war das.
      Nun stand ein Wochenendseminar in Sylt an. Ich wusste nicht, was Lilli ihrem Michael erzählt hatte.
     
     
    „Hilfe!“, die brüchige Stimme des alten Mannes in der Dunkelheit.
      „Gott sei Dank!“, entfuhr es mir laut, und leise sagte ich zu mir selbst, „Er lebt.“
      „Hilfe. Holt uns hier raus!“, rief er.
      „Ja, hallo!“
      „Hilfe ... wer ...?“
      Er klang desorientiert, verwirrt.
      „Ich bins. Sie ... wir haben vorhin miteinander gesprochen. Wie geht es Ihnen?“, fragte ich.
      „Ich habe Schmerzen.“
      „Halten Sie durch. Lange kann es nicht mehr dauern.“
      Er stöhnte.
      „Ich habe mir schon Sorgen um Sie gemacht.“
      „Es ist in Ordnung.“
      „Wissen Sie, mir war eingefallen, wir haben uns vorhin gar nicht einander vorgestellt. Wie heißen Sie? Ich heiße Thomas Ochs.“
      „Baehr, Josef, Josef Baehr.“
      „Ich hatte eben gedacht, jetzt sind wir hier gefangen, und wissen nicht mal unsere Namen.“
      „Da haben Sie recht. Ich glaube, ich war wieder ohnmächtig geworden.“
      „Ja, das waren Sie. Übrigens, neben mir liegt ein Handy, die Mutter eines Mädchens, Julia, hatte angerufen, aber ich kam nicht dran. Vielleicht ist es das Handy von dem Mädchen.“
      „Welches Mädchen?“
      „Sie saß uns schräg gegenüber, auf der anderen Seite des Ganges.“
      „Hmh?“
      „Kleiner Punk. Rot-weiß gekleidet.“
      „Ah, ja, die Schuhe auf dem Sitz.“
      „Genau.“
      Bei seinem letzten Satz versuchte ich mir vorzustellen, wo Herr Baehr lag. Es war nicht leicht, er konnte genauso gut fünf wie zwanzig Meter weit weg sein.
      „Wie weit liegen wir wohl auseinander?“, fragte ich ihn.
      Er überlegte einen Moment, „Für mich klingt es nach ... fünf Metern, höchstens zehn. Können Sie sich etwa mittlerweile bewegen?“
      „Nein.“
      „Was macht es dann für einen Unterschied, wie weit wir voneinander entfernt sind?!“
      Stimmt, dennoch würde ich mich besser fühlen, lägen wir näher zusammen. Am liebsten würde ich ihn sehen, ein menschliches Gesicht.
      „Ich werde wahnsinnig hier“, platzte es aus mir heraus.
      „Lassen Sie uns über etwas anderes sprechen.“
      „Ja“, sagte ich, aber mir fiel nichts ein. Mein Kopf war leer.
      Herr Baehr kam mir zuvor, „Was machen Sie beruflich, Herr Ochs?“
      „Ja!“, ich freute mich über sein Interesse, ich freute mich, einfach über etwas zu reden, das nicht mit dieser Situation zu tun hatte, und über meinen Beruf redete ich gerne. „Ich bin Broker“, fasste ich meinen Aufgabenbereich in einem allgemeinverständlichen Begriff zusammen. Bei dem Beruf Broker horchten die meisten Menschen auf.
      Eine Reaktion, die bei Herrn Baehr nicht zu erkennen war, zumindest nicht in seiner Stimme, „Sie sind ein Börsenmann?“
      „Ja ... ein Börsenmann“, das hatte ich so bislang noch nicht gehört. Es klang nach den goldenen Jahren.
      Und als er nichts weiter sagte, fragte ich ihn, „Und Sie?“
      „Ich bin Rentner. Schon eine ganze Weile. Vorher war ich bei Ziegler beschäftigt, in Dortmund.“
      „Ziegler ... Ziegler Stahl?!“
      „Sie kennen sich aus, Herr Ochs.“
      „Das ist mein Geschäft.“
      „Die Hausaufgaben gemacht, sozusagen.“
      „Sozusagen. Ziegler ging doch Pleite, Mitte der 80er war das, richtig?“
      „1984, im Dezember. Nicht Pleite, sie wurden aufgekauft und zerschlagen, wie man heute so sagt.“
      „Aber Ziegler war nicht mehr

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