Die Lokomotive (German Edition)
dem letzten Nachrutschen auf jeden Fall. Und nun drängten sich die störenden Tropfen in den Vordergrund meiner Wahrnehmung. Es gab auch sonst nichts, was meine Sinne reizte. Nichts zu sehen, nichts Besonderes zu hören, und mein Gesprächspartner war wieder eingeschlafen. Keine Ablenkung, wenig Hoffnung.
Ich drehte meinen Kopf abwechselnd nach links und rechts, damit die Tropfen nicht immer dieselbe Stelle trafen.
Ein Treffer auf meine Schläfe.
Ich begann zu zählen.
Neun Sekunden dauerte es, bis zum nächsten Tropfen.
Das war doch eine asiatische Folter. Nach einiger Zeit sollen sich die kleinen unbedeutenden Tropfen auf dem Kopf wie Hammerschläge anfühlen. Reichte es nicht, eingeklemmt zu sein, unter einer Lokomotive, während die Flut kommt? Die Tropfen hätten auch direkt neben mir auftreffen können, oder auf den Puffer, aber nein, ausgerechnet der Teil meines Kopfes, der unter dem Puffer hervorschaute, war den Tropfen ausgesetzt.
Wenn ich den Kopf in den Nacken legte, zerplatzte der Tropfen auf meiner Nasenwurzel. Es kitzelte und spritzte. Eigentlich wollte ich schmecken, ob es Wasser war, aber ich ließ es sein. Maschinenflüssigkeit war wahrscheinlicher.
Wie lange sollte das so weitergehen? Wie viel Flüssigkeit war übrig? Wenn es eine Flasche Wasser war, ein Liter, anderthalb Liter bei einer Flasche Evian, maximal, wenn sie niemand angetrunken hatte. Und Öl? Wie viel Liter Öl oder Diesel führte eine Diesellok mit sich? 10.000 Liter Diesel, 20.000?
Bremsflüssigkeit oder Derartiges schätzte ich auf einen halben Liter, wobei ich davon keine Ahnung hatte. Und selbst wenn ich wüsste, um wie viel Flüssigkeit es sich handelte, ich konnte weder das Tropfen abstellen, noch konnte ich vorausberechnen, wie lange ich diese Tortur auszuhalten hatte.
War es am Ende die Toilette? Nein, das würde ich riechen. Die war es nicht.
Ich spürte einen Anflug leichter Kopfschmerzen, die Folter funktionierte, oder bildete ich mir die Schmerzen lediglich ein, als bittersüße Erfüllung meiner eigenen Erwartung?
Genauso gut konnten die Kopfschmerzen vom Unfall herrühren.
Ein tiefes Brummen lenkte meine Aufmerksamkeit von den Tropfen ab. Nach ein paar Sekunden summte es wieder, beinahe sanft durch den Schuttberg. Es war ein mechanisches, gleichmäßiges Brummen und konnte nur von einem entfernten Bohrer stammen. Vielleicht hörte sich so das Auseinanderschneiden oder Schweißen von Metall an. Es erklang ein drittes Mal, und gerade als ich dachte, es ist fast schon zu regelmäßig in seiner Länge und Lautstärke, da begann schräg rechts hinter meinem Kopf der hörbare Ausschnitt eines amerikanischen Filmes, in dem sich zwei Männer mit italienischem Akzent auf Englisch unterhielten. Dazu tauchte das Display des Handys die Trümmer in ein blassblaues Schummerlicht, ähnlich den Kellerfenstern einer Leichenhalle bei Nacht. Das Leuchten hatte ich erst jetzt wahrgenommen.
Das Handy lag keine Armlänge weit weg auf meiner rechten Seite, gleich neben dem Kasten, der meinen Arm ins Watt drückte. Hastig langte ich mit meinem freien Arm herüber, aber ich kam nicht an das Handy heran. Ich zerrte, versuchte mich so lang wie möglich zu machen, probierte verschiedene Verrenkungen mit meinem Arm, über meinen Kopf, um meinen Kopf herum, keine Chance. Zwischen meinen Fingerspitzen und dem Telefon fehlte eine Handbreit.
Ein Schuss beendete den Filmausschnitt, den der Eigentümer als Ringtone-Melodie aufgespielt hatte. Das Display leuchtete weiter, und ich verharrte, als ob es sich um eine neue technische Errungenschaft handelte, dann sprang die Mailbox an, und die elektronische Stimme einer jungen Frau oder des Mädchens sprach, „Was ist denn schon wieder? Ich geb dir 30 Sekunden.“
Ich hielt den Atem an. Entgegen meiner Erwartung konnte ich mithören. „Julia, hier ist deine Mutti, wir warten hier in Altona alle auf dich. Wo bleibst du denn?“
Altona? Da hatten wir vor zwei Stunden gehalten. Das lag in der entgegengesetzten Richtung. Hatte Julia gar nicht vor, ihre Mutter zu treffen? War sie das Mädchen?
Mehrere Sekunden lang lag das schwere Atmen der Mutter in dem kaltblau erleuchteten Gewölbe. Mit ein wenig Phantasie konnte man meinen, der Berg aus Schutt habe zu leben begonnen.
Ohne eine Verabschiedung beendete sie den Anruf. Das Display erlosch und hinterließ wieder jene vollkommene Schwärze um mich herum.
„Nein“, flüsterte ich
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