Die Lokomotive (German Edition)
schauen.“
„Ich hatte meine Zukunft, schon vor langer Zeit.“
„Hören Sie auf. Sie leben!“
„Was wissen Sie schon?“
„Was haben Sie denn? Wo sind Sie verletzt?“
Wieder stöhnte er leise.
„Waren Sie das?“, fragte ich ihn, um mich zu vergewissern.
„Ja“, antwortete er.
„Ich dachte schon ...“
„Was?“
„Es gäbe noch jemanden anderen außer uns.“
„Einen was?“, fragte er.
„Einen Überlebenden.“
„Wir haben noch nicht überlebt!“
„Natürlich“, sagte ich, „Wir haben den Zugunfall überlebt. Wir warten auf unsere Rettung.“
„Sie vielleicht.“
„Was ist denn los mit Ihnen? Wo sind Sie verletzt?“
„Und warten Sie nicht zu lange“, sagte er.
„Worauf?“
„Auf ihre Rettung.“
„Unsere.“
„Ihre Rettung! Warten Sie nicht zu lange“, sagte er mit Nachdruck.
„Warum? Die Rettungsmannschaften werden schon da sein, man sucht nach Überlebenden!“
„Liegen Sie auch am Boden?“, fragte er.
„Ja.“
„Können Sie sich bewegen?“
„Nein, wie gesagt, ich bin eingeklemmt, ich liege mit dem Rücken auf dem Boden, meine Beine und mein rechter Arm sind eingeklemmt.“
„Dann können Sie sich nicht bewegen?!“
„Nein, kein Stück. Nur meinen linken Arm, und meinen Kopf, wenn Sie so wollen.“
„Dann warten Sie weiter auf ihre Rettung. Aber ich würde mich noch nicht als Überlebender bezeichnen.“
Es tat gut, mit jemandem zu reden, eine menschliche Stimme außer der eigenen zu hören, nicht mehr alleine zu sein, aber seine Einstellung hätte besser sein können, „Und warum bitte schön?“
„Weil ... wenn Sie zu lange warten, dann hat Sie das Wasser, bevor die Rettungsmannschaft da ist.“
„Das Wasser?“, fragte ich.
„Das Wasser, das Meer, die Flut! Unser Zug, der Westerland-Express, wir hatten mitten auf dem Damm gehalten, dem Hindenburgdamm. Erinnern Sie sich nicht mehr? Zwischen Sylt und dem Festland. Dann ist der Unfall passiert. Und jetzt liegen wir hier.“
Wieder tauchten die dunklen Augen des Mädchens vor mir auf, die leichte Erschütterung, das Zucken ihrer Lider, der Hauch von Angst, und der weite Horizont hinter ihr.
Ich schloss meine Augen.
„Jetzt liegen wir hier“, wiederholte er heiser.
Ich spürte meine Unterkühlung und die aufsteigende Panik durch meinen Körper wallen.
Der kalte Boden war der Meeresgrund der Nordsee, der kalte Matsch war das Watt, und der modrige Gestank der Geruch nach Ebbe.
Auf einmal konnte ich sogar das Wasser riechen, den ranzigen Geruch von abgestorbenem Seetang und trockenem Meeresboden bei Ebbe, die Wattwürmer unter mir, die nur darauf warteten, dass die Flut kam.
Ich würde ertrinken. Ich würde langsam und elendig ersaufen.
„Hallo, sind Sie noch da?“, drang die Stimme des alten Mannes durch die Dunkelheit.
„Klar, bin ich noch da. Wo soll ich denn hin?“
„Sie waren so still.“
„Tja.“
„Ich habe überlegt. Sie sehen kein Tageslicht, ich sehe kein Tageslicht, wie kann das sein? Es muss doch wenigstens über einem von uns einen Spalt geben“, sagte ich.
„Nicht unbedingt. Wir liegen neben dem Damm. Es kann sein, dass sich die Wagons über uns drei Schichten hoch ineinandergeschoben haben, vielleicht höher.“
„Und dazwischen die Lok.“
„Die liegt über ihnen?!“
„Ja.“
„Senkrecht, mit dem Puffer nach unten.“
„Ja.“
„Na, dann können Sie sich ja die Höhe des Trümmerberges vorstellen.“
Ein langgezogenes Knarren endete in einem plötzlichen Bersten. Einem Schuss gleich traf mich das Geräusch in den Magen. Wieder ballten sich meine Eingeweide zu einem Kloß zusammen. Ich wartete auf mehr. Vergebens.
Ich fragte, „Wissen Sie, ob es Ebbe wird, oder ...?“
„Die Flut kommt. Es ist Vollmond. Sie wird sehr stark ausfallen.“
Das war klar. Von allen Möglichkeiten trat die Schlimmste ein. Es konnte nicht einfach Ebbe werden, und eine gewöhnliche Flut reichte auch nicht. Was war denn los? Mein ganzes Leben hatte ich keine größeren Hindernisse zu meistern, nicht in der Schule, nicht auf der Uni, nicht im Beruf, und nicht bei Frauen. Und heute hatte sich von einem Augenblick zum nächsten das ganze Universum gegen mich verschworen.
Ich lag auf dem Meeresgrund. Wann wäre mir das eingefallen? Wäre mir das überhaupt eingefallen? Ich hatte doch den
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