Die Lokomotive (German Edition)
für die Figur und den Geist, für die blitzschnelle Reaktion unter Berücksichtigung sich stets ändernder Umstände. Dieser Sport reflektierte aus meiner Sicht am Besten das Wesen der Börse. Außerdem blieb der Hintern knackig, obwohl man beruflich den ganzen Tag auf einem Sessel vor einer Wand von Computerbildschirmen, Tastaturen und Telefonen saß.
Regelmäßig gingen wir auf einen Drink ins Lucio, eine sehr dezente Cocktailbar. Von ihrem 18. Stock überblickte man die Stadt, überblickte man den Tag und auch den nächsten. Jeden Freitag trafen wir uns dort nach der Arbeit. Manchmal nur auf einen Drink, manchmal bis nach Mitternacht, je nachdem, wie die Geschäfte in der Woche verlaufen waren, oder wenn wir ein paar Frauen kennen lernten. Die Rechnung übernahm derjenige mit der kleineren Gewinnmarge.
Ehrlichkeit zwischen uns war Ehrensache. Ansonsten hielten wir es damit nicht so genau. Oder wie Markus es einmal bei Lucio formulierte, „Ehrlichkeit ist das Gold der Dummen“.
Als Broker gehörte das gezielte Streuen falscher Informationen, von Gerüchten, also genauer gesagt Lügen, zum Tagesgeschäft. Heute würde ich daran nicht teilhaben können, obwohl mein Depot weiter arbeitete. Mein erster ehrlicher Tag auf der Arbeit.
Ich lachte laut auf, und das Geräusch meiner Stimme holte mich wieder unter die Lokomotive zurück.
Es klang alles so dumpf hier. Ich schaute wieder nach oben auf den Puffer und atmete durch den Mund. Der Puffer warf seinen Schatten auf meine Brust. Er ragte mit der linken unteren Seite der roten Lokomotive durch den Wust aus geborstenen Stahlwänden und PVC-Platten.
Der Metallblock auf meinem eingeklemmten Arm sah beängstigend aus, aber mit meinen Fingerspitzen konnte ich den Untergrund ertasten. Ein sehr beruhigendes Gefühl.
Vom Bauch abwärts bedeckte mich ein Geflecht aus Stahl, der sich zu meiner Linken und Rechten in den Boden gerammt hatte. Eine zersplitterte Sperrholzwand zierte einen kleinen Hohlraum. Ihr Schatten glich einem Strauss Blumen ohne Blüten. Ein Bündel Schläuche wand sich verdreht über mir von einer Seite zur anderen.
Ich rieb mir die Nasenwurzel, bis ich ein leises Trippeln vernahm.
Ein kleiner Krebs stakste über den Boden, dabei verursachten seine gepanzerten Beine auf den kleinen Metall- und Plastikteilen jenes leise Klicken und Kratzen.
Er hielt inne und starrte mich mit seinen schwarzen Knopfaugen an, beide Zangen gespreizt und ein Bein abgewinkelt in die Höhe gereckt, immer bereit für seinen nächsten Schritt.
Ich lächelte ihn an. Ich lächelte tatsächlich ein Tier an, einen Krebs, ein Tier ohne Gesichtszüge, das noch nicht einmal zurücklächeln konnte. Lange durfte ich hier nicht mehr liegen bleiben.
Ich hustete kurz und verscheuchte ihn so. Der Krebs verschwand zwischen einer schmalen Spalte im Schutt.
Stille.
Ich rieb meine Füße aneinander. Es tat gut, sie zu spüren. Das bildete ich mir nicht ein, ich fühlte sie, kein Zweifel. Hauptsache, alle meine Glieder waren noch dran, und außer einigen blauen Flecken war ich tatsächlich unverletzt. Nur in meinem Mund schwelte ein Belag aus getrocknetem Blut und Batteriesäure. Zumindest schmeckte es so. Ich schluckte schwer.
Ich wünschte mir ein Glas Wasser oder ein Bonbon, Hauptsache etwas, das jenen Geschmack überlagern könnte.
Fishermen’s Friend. Das waren die Besten. Auch um strapazierte Geruchsnerven zu beruhigen. Ein Zivildienstkollege reichte mir sie gleich am ersten Tag der Grundpflege. Sie waren der Schlüssel zur Höflichkeit und Sensibilität angesichts einer Morgentoilette oder dem Gestank schwelender Entzündungen. Mit einem Fishermen’s Friend in der Wange ließ man sich nichts anmerken.
Ich hatte mich damals für den Zivildienst entschieden, weil mir so tagsüber Zeit blieb, telefonisch einige Trades zu tätigen. Ich handelte mit Aktien, seit ich geschäftsfähig war. Auf 15.000,- DM belief sich damals mein Jahreseinkommen. Ohne das mickrige Zivildienstgehalt.
Frau Siepmann öffnete stets prompt die Tür, als stünde sie direkt dahinter. Sie war eine nette, zierliche alte Frau, die sich ihren geblümten Kittel glatt strich und mir gut gelaunt einen Guten Morgen wünschte. Dann verloren wir auf dem Weg zu ihrem Mann ein paar Worte über das Wetter.
Ihr Mann wog exakt 258 Kilogramm und wartete jeden Tag vor dem Bad in seinem übergroßen Rollstuhl, lediglich bedeckt von einem zu kleinen, bunt
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