Die Lüge im Bett
ausgezogen ist, bis hin zu Alissa, die er ihr einfach vor die Nase gesetzt hat und die jetzt mit tödlicher Sicherheit ihr Band geklaut hat. »Stell dir vor, Mutti«, schließt sie völlig außer Atem, »ein wichtiger Beitrag, der im Programm bereits eingeplant ist, ist einfach verschwunden. Weg, nicht mehr da! Allein das ist schon ein Kündigungsgrund. Wäre das später passiert, hätten sie jetzt ein Loch!«
»Ein Loch?«
»Eine Lücke im Programm«, erklärt die alte Dame. »Trotzdem, es kann Ihnen doch keiner einen Vorwurf machen. Sie haben das Band schließlich nicht verschwinden lassen!«
»Das kann ich aber nicht beweisen!«
»Kind, Kind! Möchtest du etwas trinken? Du bist ausgezogen bei Sven? Wo wohnst du überhaupt?«
»In einem Pferdestall!«
»In ... was?« Ilse Wessel stellt das Weinglas härter vor ihr ab als beabsichtigt.
»Originell!« lacht Rosa Heckschneider, und ihr Gesicht bekommt etwas Warmes, Weiches.
»Mutti, ich möchte keinen Wein, ich hätte lieber eine Tasse Tee. Kamillentee, wenn's dir nichts ausmacht!«
Ihre Mutter nickt verständnisvoll und geht in die Küche.
»Das hat aber nichts mit Weihnachten zu tun, daß Sie momentan in einer Krippe liegen, nehme ich an?«
Nina verkneift sich ein »ha, ha!«, dann geht ihr auf, daß die Alte gar nicht so unrecht hat. Es hat tatsächlich etwas mit Weihnachten zu tun. Bloß, daß der Zimmermann Nic heißt - und Maria blöderweise Gabriel. Und daß sie kein eigentliches Wunschkind ist, sondern eher ein Kuckucksei. Sie wird ausschlüpfen und den anderen schön langsam aus dem Nest drängen, bis er tief, tief fällt, einen schönen, tiefen Sturz macht, bodenlos und ohne Wiederkehr!
O Gott, sie braucht doch eher einen Schnaps als einen Tee, sie hat sich bald nicht mehr unter Kontrolle!
»Und was machen Sie jetzt?« Rosa Heckschneider mustert sie.
»Was ich jetzt mache? Heulen! Das ist das einzige, was mir momentan einfällt!«
»Man sieht's!«
»Ach ja?«
Ilse Wessel kommt herein, stellt den Tee vor Nina. »Er ist noch heiß, Nina, und muß noch ziehen!«
»Das sagst du mir seit hundert Jahren, Mutti! Jedesmal!«
»Eines Tages wird sie es nicht mehr sagen!«
»Wie?« Nina schaut auf, die Hände leicht um die heiße Tasse gelegt. Sie betrachtet ihre Mutter, das selbstverständlichste Wesen auf der Welt. Eines Tages wird sie nicht mehr da sein! Nicht auch das noch!
Das würde sie nie akzeptieren. Von keiner Macht dieser Erde!
Nic!
»Bist du krank, Mutti?« Während sie fragt, fällt ihr auf, daß sie sich eigentlich nie um das Wohlergehen ihrer Mutter gekümmert hat. Sie ist da, sie hat da zu sein, das ist das Natürlichste auf der Welt. Die Mutter kümmert sich um alle, nur nicht um sich selbst, und alle kümmern sich um sich, nur nicht um die Mutter! »Sag, bist du etwa krank?«
»Nein, danke, wie kommst du darauf? Mir geht's gut!«
Wußte sie es doch. Beruhigt lehnt sich Nina zurück.
Dann will Ilse Wessel wissen, warum sie in einem Pferdestall wohnt.
Weil sie bei Sven zwecks Trennung heraus mußte, bei Nic in München ohne Job aber nicht einziehen kann.
»Ich denke, er ist ein so berühmter Regisseur, kann er dir nicht helfen?«
Mütter denken immer so praktisch, so verdammt praktisch, und haben überhaupt keine Ahnung vom wahren Leben!
»Sonst könnte ich Ihnen vielleicht helfen!«
»Sie??« Erstaunt schaut Nina Rosa Heckschneider an. »Wie denn das?«
»Nun, wir sind jetzt zwar auf Tournee, aber ursprünglich kommen wir aus München, meine Damenriege und ich. Ich kenne viele Leute in München, vom Theater, von Film und Fernsehen, da müßte man sich eben mal umhören!«
»Oh, das wäre toll!« Nina ist Feuer und Flamme, notiert sich sofort Rosa Heckschneiders Handy-Nummer, schildert in kurzen Worten ihren Werdegang, erklärt ihr, daß sie beim Interview so sehr von ihrer Grandezza beeindruckt gewesen sei, und schließlich, kurz bevor der 31. Dezember anbricht, sprechen sie auch noch über den Autounfall. Danach fühlt sich Nina auf wunderbare Weise erleichtert und steigt nach Mitternacht, gerade als ihr Vater die Haustür aufschließt, beschwingt in ihr Jugendbett.
Kurz vor acht Uhr abends steht Nina aufgeregt vor dem Maritim.
Sie hat eine kleine Reisetasche dabei und ist in einen langen, schwarzen Mantel gehüllt, den sie am Morgen in ihrem Jugendschrank wiederentdeckt hat. In der Manteltasche knistert der Hundertmarkschein, den ihre Mutter ihr vorhin noch zugesteckt hat. Damit sie wenigstens ihr Essen selbst
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