Die Lüge
hielt Nadia allerdings für zu riskant. «Der überweist dich ins nächste Krankenhaus.» Was sie brauchten, war einer der guten alten Landärzte, der genügend Vertrauen ins eigene Können besaß und aus Erfahrung wusste, dass bestimmte Patienten sich grundsätzlich gegen eine Krankenhauseinweisung sträubten. So einen kannte Nadia, war zuletzt vor gut einem Jahr bei ihm gewesen. «Möglich, dass er ein bisschen beleidigt reagiert, weil ich so lange nicht da war. Aber das soll uns nicht stören. Da können wir schon einmal testen.»
Susanne schenkte diesem Satz keine Beachtung, war vollauf damit beschäftigt, den Husten, die Schwindelanfälle und den gegen Nadias Fahrstil rebellierenden Magen unter Kontrolle zu halten. Johannes Herzog hätte seine helle Freude gehabt an dieser Fahrt. Nach etlichen Kilometern Autobahn ging es noch ein Stück über eine schmale, kurvenreiche Landstraße, auf der Nadia die letzten Zweifel beseitigte, mit ihren Fahrkünsten eventuell hinter Johannes zurückzustehen. Immernoch mit achtzig brauste sie in eine kleine Ortschaft, hielt am Straßenrand einige Meter hinter einem größeren, frei stehenden Einfamilienhaus. Ein Schild neben der Haustür wies die Arztpraxis aus. Dr. med. Peter Reusch.
Nadia nahm eine Puderdose und einen im Griff versenkbaren Pinsel aus der Handtasche und tupfte etwas Farbe in Susannes Gesicht. Anschließend kam ein Parfümfläschchen zum Einsatz. Dann streifte Nadia die beiden Ringe von ihrem Finger, schob sie an Susannes Hand und ihre Handtasche unter Susannes Arm, zupfte noch mit flinken Fingern Susannes Haare zu etwas, das man mit gutem Willen als Frisur bezeichnen konnte, und fragte: «Schaffst du es allein? Wenn ich mitgehe, funktioniert es nicht.»
Es war unwirklich. In Nadias Kleidern, Nadias Ringe am Finger, unter dem Arm die Tasche mit allem, was Nadias Identität bewies. Noch ein wenig Lippenstift, Lidschatten und Wimperntusche, die Haare von einem Meister gestutzt und frisch gefärbt, mit Nadias Ohrsteckern geschmückt – und die Illusion wäre perfekt gewesen. Aber die zerrupfte Mähne störte nicht, ein paar Fransen verdeckten die unversehrten, schmucklosen Ohren.
Und auf Nadias Passfoto waren die Haare auch nicht gar so braun. Trotz des Fiebers, das den Kopf mit flüssiger Glut füllte, besaß sie noch so viel Verstand, den Inhalt der Brieftasche zu kontrollieren. Für Nadia im Porsche verdeckt durch ein paar mannshohe Büsche beim Hauseingang, betrachtete sie Personalausweis, Reisepass, Führerschein, Visiten- und Kreditkarten. Einem Packen Fotos, hauptsächlich Polaroidaufnahmen, schenkte sie keine Beachtung.
Sie tat es ohne Hintergedanken, nur um allen Eventualitäten vorzubeugen, war überzeugt, dass Zweifel an ihrer Identität aufkämen und mit Ausweis oder Führerschein ausgeräumt werden mussten. Eine Frau, die in ihrer Tasche nachAusweispapieren suchen musste, machte sich unglaubwürdig. Außerdem sollte jeder Mensch sein Geburtsdatum und seine Anschrift kennen. Privat versicherte Patienten wurden garantiert gefragt, an welche Adresse die Rechnung geschickt werden sollte. Leicht schockiert stellte sie fest, dass Nadia drei Jahre älter war als sie. Momentan sah es eher umgekehrt aus.
Nachdem sie Nadias Brieftasche samt Inhalt zurückgesteckt hatte, drückte sie auf den Klingelknopf. Eine Frau mittleren Alters öffnete und verwandelte sich auf der Stelle in blanke Sorge. «Frau Trenkler, um Gottes willen.» Dann rief sie nach hinten: «Peter, komm schnell.»
Peter kam. Beleidigt schien er nicht, eher erfreut, so unerwartet eine schon verloren geglaubte Patientin vor sich zu sehen. Frau Reusch führte sie in einen Untersuchungsraum, während er sich die Hände wusch und sich mit geübten Griffen daranmachte, die Diagnose zu stellen. Das Fieber lag bei vierzig Komma zwei, was ihn zu besorgtem Kopfschütteln und verständnislosen Schnalzlauten veranlasste. Er zog eine Injektion auf, suchte eine Weile nach einer geeigneten Vene, klopfte danach ihren Rücken ab, horchte, ließ sie husten und sofort wieder damit aufhören – um Gottes willen! Seine Frau suchte währenddessen die Patientenunterlagen heraus.
In ihrem Hirn schrillte ohne Unterbrechung eine Alarmglocke. Der Mann ist Arzt, er wird den Schwindel merken, sobald er näher hinschaut. Doch das Risiko, als Schwindlerin erkannt zu werden, war bei einem Arzt, der Nadia Trenkler seit einem Jahr nicht mehr gesehen hatte, sehr gering. Und viel reden musste sie nicht.
Doktor med. Peter
Weitere Kostenlose Bücher