Die Lüge
nächste Hustenanfall. Sie war nahe daran umzukehren. Doch sie kämpfte sich eisern weiter nach unten und erreichte die Straße. Die Luft war feucht und machte das Atmen etwas leichter. Sie schaffte es tatsächlich bis zur Telefonzelle. Dort musste sie allerdings feststellen, dass sie sich völlig umsonst gequält hatte. Der Hörer war abgerissen, lag mit lose hängendem Kabel auf den schwarzen Metallklemmen, welche die Telefonbücher hielten. Sie lehnte sich gegen die Wand der Zelle und rutschte langsam daran herunter.
Es mochte etwas mehr als eine halbe Stunde vergangen sein, als auf der Straße ein dunkelblauer Mercedes vorbeifuhr – wie zuvor zahlreiche andere Wagen. Im Gegensatz zu den anderen hielt der Mercedes jedoch nach etlichen Metern, als sei dem Fahrer gerade erst bewusst geworden, dass eine Frau am Boden der Telefonzelle hockte. Der Mercedes setzte zurück, hielt an, der Fahrer stieg aus, kam mit raschen Schritten auf die Zelle zu, riss die Tür auf und beugte sich besorgt über sie. «Ist Ihnen nicht gut?»
Er mochte Ende vierzig, Anfang fünfzig sein, war mittelgroß und stark übergewichtig, bekleidet war er mit einem teuren Anzug, dazu trug er einen protzigen Siegelring an der linken Hand. Wie ein Verbrecher sah der Mann nicht aus. Er streckte ihr die rechte Hand entgegen, um ihr vom Boden aufzuhelfen. Rechts trug er keinen Ring.
«Ich wollte mir ein Taxi rufen», murmelte sie und zeigte auf den abgerissenen Hörer. «Aber es geht nicht.» Danach musste sie wieder husten.
«Eine böse Erkältung haben Sie sich geholt», stellte der Mann fest. «Damit sollten Sie einen Arzt aufsuchen.»
«Da wollte ich ja hin», röchelte sie und ließ sich vom Boden hochziehen. Der Mann legte ihr stützend eine Hand unter den Arm.
«Ich kann Sie hinfahren», bot er an, während er ihr hinaus ins Freie half. Unentschlossen betrachtete sie den Mercedes. Es war eines der Modelle, die sich Normalsterbliche nicht leisten können. Der Mann lächelte verstehend und zückte ein Handy. «Ich kann Ihnen auch ein Taxi rufen.»
«Danke», flüsterte sie. «Nicht nötig. Ich fahre mit Ihnen.»
Sie ließ sich auf den Beifahrersitz helfen. Er setzte sich hinter das Steuer und lächelte ihr aufmunternd zu. Kurz vor fünf erreichten sie das Zentrum. Sie stieg aus, bedankte sich und wandte sich der Fußgängerzone zu. Ein paar Minuten Zeit waren ja noch. Ihr war übel. In den letzten beiden Tagen hatte sie außer Bronchialtee nichts zu sich genommen. An einer Imbissbude kaufte sie sich eine Kirschwaffel und schlang sie hastig hinunter. Danach fühlte sie sich etwas besser. Nur hielt es nicht lange vor.
Irgendwann fand sie sich auf einem Betonklotz in einer Gruft wieder, wusste nicht, wie sie dahin gekommen war, und glaubte im ersten Moment, sie säße in der Fabrikruine. Sie brauchte etliche Minuten, um zu erkennen, dass sie nur im Parkhaus saß. Die Luft war erfüllt von Abgasen. Der Husten wurde schlimmer. Hinter dem Betonklotz befand sich ein Pfeiler, sie lehnte sich mit dem Rücken dagegen und dämmerte weg.
Stunden später rüttelte sie jemand an der Schulter, eine Hand schlug ihr mehrfach leicht ins Gesicht. Wie durch Watte gedämpft drang eine Stimme in ihr Bewusstsein. «Susanne, um Himmels willen, wach auf!» Im diffusen Dämmerlicht schwamm Nadias besorgte Miene vor ihren Augen und verschwand auch nicht, nachdem sie heftig geblinzelt hatte.
Nadia sprach unwillig auf sie ein. «Hast du den Verstand verloren? Du siehst aus wie der Tod, in dem Zustand gehörst du ins Bett. Was machst du denn hier?»
Statt einer Antwort hustete sie und spuckte die Kirschwaffelauf den Betonboden. Nadia redete weiter wie ein Wasserfall, erzählte etwas von einem quer gelegten Lkw, der zwei Fahrspuren blockiert und es unmöglich gemacht hatte, ihre Verabredung einzuhalten, und etwas von einem Bekannten, der Susanne Bescheid sagen sollte. Damit musste der Mann im Mercedes gemeint sein, aber der hatte nicht gesagt, er käme in Nadias Auftrag.
Endlich kam Nadia auch auf die Idee, ihr vom Betonklotz auf die Beine zu helfen. Zwei Minuten später saßen sie im Porsche. Nadia erhob weitere Vorwürfe, wie verantwortungslos sie mit der eigenen Gesundheit umginge. Susanne schilderte zwischen mehreren Hustenanfällen, wieso sie nicht zum Arzt gehen konnte. Daraufhin erteilte Nadia hektisch ein paar Instruktionen und schloss: «Ich bin privat versichert. Das ist kein Problem.»
In der Stadt nach einem Arzt mit Bereitschaftsdienst zu suchen,
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