Die Lüge
Reusch kam von selbst auf den Gedanken, dass sie keine Zeit gehabt hatte, ihn früher aufzusuchen, und jetzt keine hätte, sich in ein Krankenhaus zu legen. Außerdem fand er, ihre Qualmerei habe den Bronchien gewissnicht gut getan. «Wie viele sind es denn mittlerweile pro Tag, dreißig, vierzig?»
Ihre Antwort wartete er nicht ab. Da war ein sanft mahnender Unterton in seiner Stimme, als er befahl: «Für die nächsten Tage lassen wir die Finger von den Sargnägeln. Wir sind sehr nahe an einer Lungenentzündung.»
Sie schwor mit krächzender Stimme, in den nächsten Tagen und Wochen keine Zigarette anzurühren. Unbesehen glaubte er ihr nicht, vertraute jedoch, wie er betonte, für die nächsten Tage auf ihre Vernunft. Dann fragte er nach dem Befinden ihres Mannes, schrieb ein Rezept aus; Antibiotika, etwas zum Fiebersenken und etwas, um den Kreislauf zu stabilisieren. Abschließend ermahnte er sie, das Wochenende auf jeden Fall im Bett zu verbringen und sich von ihrem Mann nach allen Regeln der Kunst verwöhnen zu lassen, wobei er scherzhaft mit einem Finger drohte: «Aber das gilt nur für Essen und Trinken, dass wir uns da richtig verstehen.»
Er verabschiedete sie mit dem Hinweis, sie solle in einer Woche zur Nachuntersuchung erscheinen, begleitete sie persönlich zur Tür und spähte an ihr vorbei in Richtung Straße. Viel konnte er wegen der Büsche beim Hauseingang nicht sehen, den Porsche auf keinen Fall. Erst jetzt schien er sich zu fragen, wie sie zu ihm gekommen war. Ihr fiel nichts Besseres ein, als zu murmeln: «Michael wartet.»
«Warum ist er denn nicht mit reingekommen?», fragte Peter Reusch. Sie zuckte mit den Achseln, und er trug ihr einen lieben Gruß an ihren Mann auf.
Die Haustür schloss sich hinter ihm, sie ging langsam zur Straße. Mit wackligen Knien erreichte sie das Auto. Nadia beugte sich über den Sitz, stieß die Tür auf, pure, zittrige Erwartung. «Na?» Sie sank in den Beifahrersitz und zeigte das Rezept. «Gut», sagte Nadia, nahm ihre Ringe und die Tasche zurück und drängte auf einen umfassenden Bericht.
Sie fuhren zurück – in etwa dem gleichen Tempo. Nadia hielt unterwegs bei einer Apotheke mit Nachtdienst, löste das Rezept ein, wollte wissen: «Warum bist du nicht krankenversichert?», und reagierte ungehalten, als sie den Grund erfuhr. «Warum hast du mir das verschwiegen? Meinst du, ich hätte kein Verständnis? Was ist denn dabei, wenn du dir ein bisschen Geld von deiner Mutter nimmst? Das erbst du doch irgendwann sowieso.»
Kurz nach neun bog der weiße Porsche in die Kettlerstraße. Trotz ihres Unwillens über Susannes Lüge war Nadia bis dahin ruhig, energisch und stolz auf das Gelingen des Täuschungsmanövers gewesen. Nun wurde sie nervös. «Schaffst du es allein die Treppen hinauf?»
«Natürlich.» Sie fühlte sich besser, was vermutlich der Spritze zu verdanken war. Schon während der Fahrt war ihr Kopf zunehmend klarer geworden. Daran hatten Nadias Vorwürfe nichts geändert, vielleicht hatten sie es sogar gefördert. Auf jeden Fall hatten diese Vorwürfe die Furcht entfacht, dass Nadia ihr schriftliches Angebot mündlich nicht wiederholen würde.
«Gut», sagte Nadia und brachte den Porsche mitten auf der Straße zum Stehen, beide Seiten waren wie üblich zugeparkt. «Dann steig aus. Sorg dafür, dass die Haustür nicht zuschlägt, und lass deine Wohnungstür offen. Dann kannst du dich gleich ins Bett legen und musst nicht mehr aufstehen.»
Sie stieg aus, und kaum hatte sie die Wagentür zugedrückt, brauste der Porsche davon. Die Haustür offen zu halten, war nicht nötig, sie schloss ohnehin seit langem nicht mehr richtig. Im Haus war es relativ still. Sie kam unbehelligt in den dritten Stock, lehnte ihre Wohnungstür nur an, ging in die Küche und schluckte die erste Portion Antibiotika. Erst danach fiel ihr ein, dass sie Nadia nicht gesagt hatte, in welchem Stockwerk ihre Wohnung lag.
Es gab insgesamt fünf Etagen im Haus, das Erdgeschoss eingeschlossen. Einen Aufzug gab es nicht. Sie wollte trotzdem wieder nach unten, damit Nadia nicht lange suchen musste. Doch nun, wo der Blick schärfer war, stach ihr die Unordnung ins Auge. Sie räumte rasch auf, damit Nadia nicht den Eindruck bekam, sie habe ihre Sachen an eine Schlampe verschenkt.
Zuletzt schob sie den verrutschten Tisch wieder an seinen Platz, rückte das abgeknickte Tischbein zurecht und hob die vermeintliche Schraube vom Boden auf. Befestigen wollte sie die später. Bei näherem
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