Die Luna-Chroniken, Band 1: Wie Monde so silbern (German Edition)
Augen und verscheuchte die Erinnerung. Sie musste es tun.
Sie nahm das Teppichmesser von der Ecke des Arbeitstischs, dessen Klinge in einer mit Alkohol gefüllten Büchse steckte. Sie ließ die Flüssigkeit abtropfen, holte tief Luft und legte ihre Cyborg-Hand mit der Innenseite nach oben auf den Schreibtisch. Sie erinnerte sich daran, wo sie den Chip auf Dr. Erlands Hologramm gesehen hatte, gut zwei Zentimeter von dort entfernt, wo Haut auf Metall traf. Das Schwierigste würde sein, ihn herauszubekommen, ohne dabei irgendwelche wichtigen Drähte zu durchtrennen.
Sie versuchte, ruhig zu bleiben und ihre Hand ganz still liegen zu lassen, dann drückte sie die Klinge in ihr Handgelenk. Ein stechender Schmerz durchfuhr sie, aber sie zuckte nicht zurück. Ruhig. Ganz ruhig.
Ein Piepen schreckte sie auf. Cinder fuhr zusammen, zog die Klinge heraus und drehte sich zur Wand mit den Regalen. Das Herz klopfte ihr wie wild gegen die Rippen, als sie alle Werkzeuge und Ersatzteile musterte, die sie zurücklassen würde.
Es piepte noch einmal. Cinder sah den alten Netscreen an, der noch immer gegen die Regale gelehnt dastand. Eigentlich war er vom Netz getrennt, und trotzdem flackerte ein hellblaues Quadrat in der Ecke auf. Noch ein Piepen.
Cinder legte das Messer weg und kniete sich vor den Schirm.
ANFRAGE NACH DIREKTEM LINK VON UNBEKANNTEM TEILNEHMER ERHALTEN. NEHMEN SIE AN?
Sie legte den Kopf zur Seite und sah den D-TELE-Chip im Laufwerk stecken. Das kleine grüne Licht daneben glühte. Im Schatten des Bildschirms sah er wie ein ganz normaler Chip aus, aber Cinder konnte sich noch gut an Kais Reaktion erinnern, als sie ihm das silbrig schimmernde Material beschrieben hatte. Ein Chip von Luna.
Sie nahm einen dreckigen Lappen von dem Schrotthaufen und drückte ihn auf die kaum blutende Wunde. »Link annehmen.«
Es hörte auf zu piepen. Das blaue Quadrat verschwand. Eine Spirale drehte sich auf dem Schirm.
»Hallo?«
Cinder fuhr zusammen.
»Hallo, hallo, hallo – ist da jemand?«
Wer auch immer das Mädchen sein mochte, sie hörte sich an, als sei sie kurz vorm Nervenzusammenbruch. »Bitte, bitte, antworten Sie. Wo ist denn diese blöde Androidin? HALLO?«
»Hall-o?« Cinder beugte sich über den Schirm.
Das Mädchen hustete, dann folgte eine kurze Stille. »Hallo. Kann mich jemand hören? Ist da jemand …«
»Ja, ich kann Sie hören. Moment, irgendetwas stimmt hier nicht mit dem Videokabel.«
»Dem Himmel sei Dank«, sagte die Stimme, als Cinder den Lappen zur Seite legte. Sie drehte den Schirm um und öffnete das Bedienungsfeld. »Ich dachte schon, der Chip wäre beschädigt oder ich hätte ihn mit einer falschen Verbindungs-ID programmiert oder so was. Spreche ich mit jemandem vom Palast?«
Cinder sah, dass sich das Videokabel aus der Klemmverbindung gelöst hatte, wahrscheinlich als Adri den Netscreen von der Wand gefegt hatte. Sie steckte es wieder hinein, und helles blaues Licht strahlte auf den Boden. »So«, sagte sie und hielt den Bildschirm richtig herum.
Als sie das Mädchen sah, schrak sie zusammen. Sie musste etwa so alt sein wie Cinder und hatte das längste, lockigste, widerspenstigste, ungekämmteste blonde Haar, das man sich nur vorstellen konnte. Das goldene Wirrwarr um ihren Kopf hatte sie zu einem großen Knoten über der linken Schulter zusammengesteckt und von dort fiel es in verfilzten Zöpfen und Strähnen herab, wand sich um ihren Arm und ergoss sich aus dem Sichtfeld. Die Spitzen wickelte sich das Mädchen fieberhaft um die Finger.
Ohne dieses schreckliche Wirrwarr von Haaren hätte man sie für hübsch halten können. Sie hatte ein niedliches herzförmiges Gesicht, riesige himmelblaue Augen und eine Nase voller Sommersprossen.
Irgendwie war sie überhaupt nicht so, wie Cinder sie sich vorgestellt hatte.
Das Mädchen war genauso überrascht, als sie Cinder in ihrem langweiligen T-Shirt und mit der Cyborg-Hand sah.
»Wer bist du?«, fragte sie. Sie sah den Raum hinter Cinder skeptisch an, das trübe Licht, den Kaninchendraht. »Warum bist du nicht im Palast?«
»Ich durfte nicht mit«, antwortete sie und warf einen kurzen Blick auf das Zimmer hinter dem Mädchen. Ob sie wohl gerade in ein Haus auf dem Mond guckte? Allerdings sah es eigentlich gar nicht nach einem Zuhause aus. Das Mädchen saß zwischen Metallwänden, Maschinen, Bildschirmen, Computern und Armaturen, die mehr Knöpfe und Lichter hatten als das Cockpit eines Frachtschiffs.
Cinder schlug die Beine übereinander
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