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Die Lust des Bösen

Die Lust des Bösen

Titel: Die Lust des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cassandra Negra
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gehänselt, wo man nur konnte.
    Niemand hatte diesen introvertierten, seltsamen Jungen gemocht. Deshalb war sein Motto gewesen: Pass dich an, fall nicht auf, errege kein Aufsehen und keinen Argwohn. Später sehnte er sich dann tief in seinem Inneren nach Geborgenheit und Zuwendung, aber diese selbst zu geben war er nicht imstande, weil er sie nie kennengelernt hatte.
    Das einzige Mal in seinem Leben, dass er sich wirklich wohlgefühlt hatte, war die Zeit in der Pathologie gewesen. Die Realschule hatte er damals nur knapp geschafft und anschließend eine Ausbildung zum Pflegehelfer gemacht. Dort hatte er viel mit alten und kranken Menschen zu tun gehabt und vor allem natürlich mit dem Tod. Irgendetwas daran hatte ihn von Anfang an fasziniert.
    Während seine Kollegen sich immer gedrückt hatten, wenn ein Verstorbener für die Abholung durch den Bestatter bereitgemacht oder in die Pathologie heruntergebracht werden sollte, hatte er sich jedes Mal freiwillig dazu gemeldet. Es hatte ihm Spaß gemacht. Die Menschen waren ihm in diesen Momenten ausgeliefert gewesen; er konnte mit ihnen machen, was immer ihm beliebte. Es waren die Gesichter, die ihn so faszinierten, sahen sie doch alle im Moment ihres Todes so entspannt und friedlich aus. Aber das Wichtigste: Sie stellten keine Fragen mehr. Sie nervten nicht mit ihrem ständigen »Hans, kannst du mal?«.
    Hier hatte es niemanden gegeben, der ihn kleinhalten konnte. Es hatte nicht lange gedauert, bis er die Pathologie für sich entdeckte. Hier half er aus, wann immer sie ihn brauchten, bereitete die Toten für die Obduktion oder für die Identifizierung durch die Angehörigen vor. Nach der Obduktion musste der Leichnam dann von allen Verunreinigungen, von Blut, Urin und Stuhl gesäubert werden, manchmal war auch eine Ganzwaschung notwendig. Damit das Gesicht nicht zu sehr einfallen konnte, hatte er den Verstorbenen nicht selten eine Zahnprothese eingesetzt, hatte sie frisiert oder rasiert. Gab es keine Arbeit an den Leichen, reinigte er einfach nur den Obduktionssaal.
    Der Job hatte für ihn bedeutet, dass er sich nicht mit den Menschen auseinandersetzen oder gar mit ihnen kommunizieren musste. Nein, hier lagen Leichen, menschliche Überreste, die ihn nicht belästigten. Hier musste er sich nicht beweisen, niemand konnte ihn beleidigen, erniedrigen oder verunsichern, und er fing auch nicht an zu stottern, wie es sonst seine Art war, wenn er verlegen, unsicher oder aufgeregt war. Hier war er der ungekrönte König gewesen, der Herr über ein paar Dutzend Leichen, die sich ihm nicht mehr entziehen konnten. Ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit konnte er sich sicher sein, jederzeit. Und er hatte es genossen, in der Stille und Abgeschiedenheit im Untergrund und in dieser eigenartigen, kühlen Atmosphäre zu wirken.
    Nicht zuletzt war es dieser süßliche Verwesungsgeruch – der Duft des Vergänglichen –, der ihn magisch anzog. Geradezu göttlich war dieser Leichengeruch, den er gierig in sich hineinsog.
    Warum eigentlich rochen Leichen so penetrant?
    Er wusste es. Es war nicht etwa der Verwesungsprozess allein, in dessen Verlauf die Bakterien die Oberhand gewannen. Vielmehr war es so, dass Menschen schon zu Lebzeiten ähnlich rochen wie später, wenn sie tot waren, aber eben nur viel schwächer. Es war dieser typische, starke Eigengeruch, den man selbst aber nicht mehr wahrnahm – vergleichbar mit dem Lieblingsparfüm, das man nach kurzer Zeit des täglichen Gebrauchs nicht mehr riecht. Durch die Zellzersetzung schließlich verstärkte sich dieser menschliche Geruch, der einem dann nicht einmal übelriechend, aber eben viel zu stark vorkam.
    Während er diesen speziellen Duft in sich eingesogen hatte, hatte er seine Kopfhörer aufgesetzt, seinen iPod angeschaltet und seinen Lieblingssong von den Ärzten gehört. Die Lautstärke hatte er bis zum Anschlag aufgedreht. Das Ganze hatte der Atmosphäre zusätzlich noch einen morbiden musikalischen Charme verliehen.
    »Der letzte Schlaf, er war sehr tief. Etwas geschah, während ich schlief. Kalte Fliesen oder Geruch, auf meinem Körper ein Leichentuch. Etwas Schlimmes ist geschehen, weil meine Haare nicht mehr stehen. Die Füße schmerzen vom Schattentanz, und wo zum Henker ist der Rosenkranz? Sie haben mich vergessen. Wo seid ihr alle, wo seid ihr alle? Hier ist nichts zu essen, in der Leichenhalle, in der Leichenhalle.«
    Mit der Zeit aber hatte sich Wengers Musikgeschmack geändert, und er hatte begonnen, Gefallen an Wagner zu

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