Die Lust des Bösen
doch in die Anwesenheitsliste hatte eintragen sollen, hatte er sie weiterkreisen lassen. Fragen seiner Mitstudenten wiegelte er meist mit einer simplen Bemerkungen wie »Muss noch mal wiederholen« ab.
Jeder seiner Kommilitonen hatte dafür Verständnis gehabt. Schließlich waren die Präparationskurse und die Prüfung in diesem Fach die schwierigsten im ganzen Medizinstudium – und das nicht nur, weil den meisten Studenten auch nach dem dritten Mal noch übel wurde. Es war komplexes anatomisches Fachwissen, das hier gefragt war.
Auch seine Bedenken, die er anfänglich hinsichtlich seines doch für einen Erstsemester-Studenten recht fortgeschrittenen Alters gehegt hatte, hatten sich rasch als unbegründet erwiesen.
Er erinnerte sich noch gut an seinen Kommilitonen Michael, einen großen, dunkelblonden Studenten mit wachen Augen, der ihn mit seiner guten Beobachtungsgabe und seinen gezielten Fragen so manches Mal in Erklärungsnot gebracht hatte. Immer hatte er einige bissige Bemerkungen von wegen »Spätberufener« fallen lassen. Für die meisten anderen aber war Wenger hier ein ganz normaler, freundlicher Mitstudent gewesen, von dem niemand besonders Notiz nahm. Außerdem hatte er natürlich alles daran gesetzt, nur ja nicht aufzufallen.
Es war ein Freitagvormittag gewesen, als es dann endlich so weit war. Die junge Assistenzärztin Anne Schmidt hatte zunächst mit einer kleinen theoretischen Einführung begonnen, die ihn zutiefst gelangweilt hatte. Das Einzige, was ihn damals interessiert hatte, war die Praxis. Außerdem kannte er das, was sie sagte, schon.
Dann aber hatte er doch etwas Neues gehört, das ihn aufhorchen ließ, nämlich, dass man kein Geld dafür bekam, wenn man seinen Körper der Wissenschaft zur Verfügung stellte, sondern sogar noch etwas bezahlen musste, um der Universität die Kosten für den Transport der Leiche abzunehmen. Auch hatte ihn der Hinweis der Rechtsmedizinerin überrascht, dass sich die Universität kaum noch retten könnte vor der gewaltigen Anzahl von Anfragen bezüglich einer Körperspende.
Ziemlich unlogisch, hatte er damals überlegt. Die Leute sollten Geld ausgeben, und dennoch entschlossen sie sich zu diesem eigenwilligen Schritt? Vielleicht waren diese Menschen auch einfach nur praktisch veranlagt. Immerhin war eine Körperspende billiger als eine normale Bestattung.
Bei diesem Gedanken hatte er unwillkürlich grinsen müssen. Wie würde es wohl sein, hatte er damals überlegt, wenn er nicht nur der Bestatter, sondern auch derjenige sein würde, der die Spender in Jenseits beförderte? Er hatte gespürt, wie das Adrenalin in ihm hochstieg und sein Körper zu zittern begann, so sehr erregte ihn dieser Gedanke. All seine Konzentration hatte er dann zusammennehmen müssen, um nur ja nicht aufzufallen.
Nur dem engagierten Michael war nicht entgangen, dass Wenger hin und wieder sehr merkwürdig reagierte. Von einem Moment auf den anderen veränderte sich seine Mimik, ohne jeden ersichtlichen Grund.
Unterdessen hatte die Assistenzärztin begonnen, die Konservierung einer Leiche zu erläutern.
Wieder nur langweiliges Verwaltungszeug, hatte er damals genervt gestöhnt und erneut ein Gähnen unterdrücken müssen.
Als sie erklärt hatte, dass jede Universität wohl ihre eigene, spezielle, jedoch geheime Mischung aus Formaldehyd, Ethanol und gewissen weichmachenden Stoffen habe, war Wenger wieder ganz Ohr gewesen.
»Aha«, hatte er damals überlegt, »Formaldehyd also.«
In seinem Kopf hatte es zu arbeiten begonnen.
»Zusätzlich«, war die Rechtsmedizinerin mit ihren Ausführungen fortgefahren, »verteilt sich diese Mischung über die Blutbahnen in der gesamten Leiche, damit diese nicht nur von außen konserviert, sondern vollständig mit Chemikalien durchtränkt wird.«
Das war das Wissen, was ihm gefehlt hatte – denn bei dieser Methode konnten die wichtigsten Organe nicht mehr verwesen.
Er hatte sich vorgestellt, wie er ihre Herzen und ihre Gehirne konservieren würde. Da verspürte er zum ersten Mal dieses wohlige Gefühl der Befriedigung; einen inneren Schauer, der sich einstellte, wenn er nur daran dachte. Es war ein diabolisches, grausames Spiel, an dem er sich ergötzte. Hier musste es seinen Anfang genommen haben.
»Zur Konservierung«, war er wieder den Ausführungen der Ärztin gefolgt, »benötigen wir nur eine kurze Zeit. Aber«, so hatte sie betont, »zum Schutz vor Infektionen verweilt die Leiche noch eine Weile in einem Konservierungsbad.
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