Die Lust des Bösen
Schließlich weiß man ja nie, welche Krankheiten ein Mensch hat.«
»Wie lange, schätzen Sie, muss die Leiche in diesem Bad bleiben?«, hatte die Gerichtsmedizinerin in die Runde gefragt.
»Nun, es dauert ein halbes Jahr«, hatte die Ärztin schließlich das Rätsel aufgelöst und damit von den Studenten ungläubiges Gemurmel und Staunen geerntet. So viel zur Theorie.
Nie hatte er sich erleichterter gefühlt als nach diesen Worten. Endlich Praxis, jubelte er innerlich.
Als sich jeder Student einschließlich Wenger, dessen Hände vor Aufregung zittrig und feucht waren, etwas umständlich in einen der bereitgelegten blauen Kittel gewickelt hatte, betraten alle gemeinsam einen gefliesten Raum, in dem auf mehreren Tischen verschiedene Leichen lagen. Ihre Formen konnten sie zunächst nur erahnen, da sie mit Tüchern abgedeckt waren. Ein Glücksgefühl hatte ihn durchströmt. Endlich wieder zu Hause! Dieser Geruch, der all seine Sinne berührte …
Kurz darauf versammelten sich alle um die erste Leiche und warteten, bis die Assistenzärztin das Tuch lüften würde. Und dann war der große Augenblick gekommen, für ihn nicht mehr als Routine, aber in den Gesichtern einiger Studenten hatte er deutlich sehen können, dass sie nur mühsam einen Würgereiz unterdrücken konnten.
Es überraschte ihn, dass diese Leiche doch so viel plastischer aussah als die, die er bisher zu Gesicht bekommen hatte. Fast wie eine Wachsfigur mutete sie an, und nur wenig erinnerte noch an einen lebenden Menschen aus Fleisch und Blut.
Dann schlug die engagierte Forensikerin die vorpräparierten Hautlappen am Bauch der Leiche zur Seite und zeigte den Studenten das gelbliche Fettgewebe. Nachdem sie auch dieses zur Seite geschoben hatte, konnten sie die Bauchmuskeln sehen, die aus mehreren Strängen bestanden, die in verschiedenen Richtungen übereinander verliefen.
Endlich kam sie zum Hals und zeigte den Studenten, was es da so alles an »Schläuchen« und »Röhren« gab.
»Der Kehlkopf, die Schilddrüse und hier, der dicke Nervenstrang an der Schulter.« Sie hatte erläutert, dass er die Arme und Hände mit vielen für die Feinmotorik unabdingbaren Nervenbahnen versorgte.
»Kommen Sie, gehen wir weiter.«
Die nächste Leiche, die sich die Gruppe näher ansah, hatte auf dem Bauch gelegen. Wieder hatte sie Haut und Fettgewebe am Rücken zur Seite geklappt und die Muskeln freigelegt.
Worauf sie hinauswollte, war ihm damals sofort klar geworden: die Wirbelsäule mit dem Rückenmark, Teil des zentralen Nervensystems.
Ein Längsschnitt durch die Wirbelsäule – ja, das war es, was ihm damals durch den Kopf geschossen war. Schließlich hatten sie einen Blick auf die sympathischen und parasympathischen Axone erheischen können, die Wirbel für Wirbel das Rückenmark verließen, um den Körper mit Gefühl zu versorgen.
Fasziniert hatte er auf den toten Körper gestarrt – denn das war anders als das, was er bisher in seinen Anatomielehrbüchern und in Lehrvideos gesehen hatte.
»Live war eben doch live« – nicht die Theorie war es, nicht die Fantasie, die ihn befriedigten und ihm das gaben, was er brauchte. Er musste erspüren, fühlen, riechen und anfassen – »mit allen Sinnen genießen«, war ihm durch den Kopf gegangen, während sich die Gruppe langsam um die dritte Leiche herum aufstellte. Bei diesem Körper schließlich sollte der Schwerpunkt endlich auf den inneren Organen liegen.
Zum Schluss hatte ihnen die Ärztin noch eine Raucherlunge mit riesigen, festen Bronchien gezeigt, das Herz, die Leber und die Galle, den Magen und den endlos langen Darm sowie die Harnblase und die Nieren.
Damals wurde ihm abwechselnd heiß und kalt zugleich.Immer konkreter gestaltete sich das Bild, das sich Stück für Stück an diesem Tag für ihn zusammengefügt hatte.
Gleich am nächsten Tag würde er sich erneut in die Pathologie schleichen und seine ersten Schnitte an einer der Leichen dort ausprobieren.
E s war eine laue Sommernacht, als Wenger den schweren gusseisernen Gullydeckel beiseiteschob. Sein schwarzes Muskelshirt gab den Blick frei auf seine Unterarme, die auffällig mit mythischen Adlerköpfen tätowiert waren. Mit seiner rechten Hand stützte er den Deckel ab, dann schwang er sich hinunter in den engen Schacht. Nur Sekunden später ließ er den Kanaldeckel scheppernd in seine Verankerung zurückfallen.
Sofort wurde es dunkel, und er brauchte beide Hände, um mit seinem durchtrainierten Körper an den feuchten Wänden langsam
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