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Die Lust des Bösen

Die Lust des Bösen

Titel: Die Lust des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cassandra Negra
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Fantasie.
    Inzwischen hatte er sein Lieblingsgrabmal erreicht. Es lag in der Mitte des Friedhofs, links des Hauptweges am Ende der hohen Steinmauer, die den Friedhof umsäumte. Es war die letzte Ruhestätte eines unbekannten Generals, verziert mit einer kleinen Kapelle, die von zwei Engeln auf Marmorsäulen rechts und links eingerahmt wurde. Ein wenig erinnerten sie an die »Goldelse«, wie die Berliner liebevoll die Figur auf ihrer Siegessäule nannten.
    Über dem Grabstein in der Mitte des Ensembles – einem riesigen, grauen eisernen Kreuz, das reliefartig in Granit gemeißelt war – breitete ein weißer Marmorengel schützend seine Flügel aus. Auf diesem Friedhof war es mit Abstand das gepflegteste Grab. Der Granit erstrahlte in vollem Glanz, als sei er gerade erst poliert worden, und auch frische Blumen waren hier sporadisch zu finden.
    Der Engel stand da, vollkommen entspannt, fast lässig, und sein Blick glitt in die Ferne, als wenn er sagen wollte: Keine Angst, du musst dich nicht fürchten, ich bin bei dir. Auf deinem letzten Weg begleite ich dich. Schau her, meine schützenden Schwingen breite ich über dir aus, nichts kann dir jetzt mehr geschehen, du bist angekommen!
    Aber es war nicht einfach nur ein Engel. Es war in erster Linie eine wunderschöne Frau, die in ihrem fließenden Gewand fast erotisch wirkte. Ihre Brüste und ihre Beine zeichneten sich unter ihrem Kleid ab und ihr gesamter Körperbau erinnerte Wenger an die Germania, die er tief unten im Bunker auf der Wandmalerei gesehen hatte. Ja, sie war genauso schön und rein wie diese blonde Frau.
    Hier konnte er zur Ruhe kommen, denn er hatte sein Ziel erreicht. Er musste sich nichts mehr beweisen. Jetzt konnte er sich beruhigt zurücklehnen und sich auf seine letzte Reise begeben.
    Sein Blick glitt über das Kreuz des Grabmals und fiel auf einen Stein, auf dem ebenfalls ein Engel stand, jedoch ganz anders als der erste. Niedergeschmettert und verzweifelt sah er aus mit seinen gebrochenen Flügeln, die schlaff an ihm herabhingen, und mit seinem Gewand, das er fest umklammert hielt wie etwas, das er angstvoll festhalten musste, damit es nicht verloren ging.
    Er sah furchtsam aus, dieser Engel. Etwas Düsteres lastete schwer auf ihm. Er war keine Lichtgestalt, nein, er war eine Gestalt aus einer anderen Welt, ein Todesbote. Keiner, der die Seelen der Verstorbenen sanft ins Himmelreich trägt, sondern einer, der den Menschen mit sich hinabziehen will in sein dunkles Reich. Keiner, der Hoffnungs- und Mutlosigkeit vertreiben wollte. Nein, er war der, der die Seelen wollte, das, was von den Gefallenen übrigbleibt. Denn sie gehörten ihm, diese gefallenen Seelen, ihm ganz allein. Er symbolisierte den Todesengel.
    Eine Weile stand Wenger hier und konnte den Blick kaum von dieser traurigen Gestalt abwenden. Es war, als ob der Himmel ihm signalisieren wollte, dass das, was auf ihn wartete, nicht nur schön sein würde.
    Er versuchte, den Gedanken daran zu verdrängen, denn er war zufrieden mit sich und seiner Mission – auch wenn der letzte Akt nicht ganz nach seiner Vorstellung verlaufen war. Schließlich hatte er die Ermittler gezwungen, noch einmal ein paar Prachtwerke nationalsozialistischer Baukunst zu durch forsten, diesmal im Gegenlauf der Geschichte: Zuerst das Ende im Führer- beziehungsweise Fahrerbunker, dazwischen das Führerhauptquartier, die Wolfsschanze. Nur der krönende Abschluss im Olympiastadion, dem Anfang von allem, der Ort, an dem Hitler sein Deutschland das erste Mal im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit gehabt hatte, war gescheitert.
    Ja, im Großen und Ganzen war er mit sich und seiner Inszenierung zufrieden, und doch wurmte ihn die Tatsache, dass keiner der Kommissare, weder Lea noch ihr Partner, seine wahren Motive entschlüsselt hatten. Niemand hatte sein »Kunstwerk« zu würdigen gewusst.
    Der Chauffeur dachte an all das, was er vollbracht hatte, und spürte, wie ihn ein wohliger Schauer überkam. In diesen Momenten war er wohl nicht er selbst gewesen, sondern ein Dämon – jenes Tier, das aus dem Abgrund stieg und viele Gesichter hatte. Er war das Produkt seiner Projektionen und Fantasien, seiner Gier nach Macht und seiner grenzenlosen Sucht nach Befriedigung.
    Doch jetzt hatte er Angst, dass er selbst Opfer jenes Dämons werden würde, der ihn mit sich hinabziehen wollte in den Abgrund.
    Die Bilder überschlugen sich in seinem Kopf: Der Wanderer aus dem Gemälde von Caspar David Friedrich war zurück, er stand auf dem

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